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St. Georg bei Union. Der Klub in Köpenick hat mittlerweile viele englische Anhänger

© imago

Klischees für Briten: Eine neue Romantik - Wie englisch ist Union?

Der 1. FC Union ist mit unzähligen Klischees behaftet. Wegen dieser Klischees pilgern viele Engländer ins Stadion An der Alten Försterei – und kommen wieder, weil sie bei Union genau jene Romantik finden, die dem britischen Fußball abhanden gekommen ist.

Der Mann neben mir schreit: „Ach, du bist Engländer! Geil! England ist geil! Ich liebe englischen Fußball! Tolle Fans, echte Zweikämpfe! Geiler Fußball!“

Wir stehen beide in Block V des Stadions An der Alten Försterei. Es ist ein schöner Nachmittag im Dezember und Union gewinnt gegen Arminia Bielefeld. Bislang habe ich dem Mann in fast allem zugestimmt, aber als er fröhlich diese Liebeserklärung an mein Heimatland formuliert, schaudert es mich. Solche Klischees gehen mir längst auf die Nerven. Ich versuche, ihm die Realität des modernen englischen Fußballs, wie ich sie wahrnehme, zu erklären: kommerzialisiert, teuer, oberflächlich und eingebildet. Er hört mir nicht zu. Er hat seine Vorstellung vom englischen Fußball, und wie so viele Engländer überhört er alles andere.

Allerdings steht dieser störrische Glaube einem Union-Fan gut. Denn Union ist ein Klub, zu dessen Grundlagen eben auch Klischees gehören. Als da sind: seine Einzigartigkeit, die tolle Stimmung im Stadion, die starke Verbindung zwischen Fans und Verein, zwischen Fans und Spielern.

Klischees müssen nicht völlig falsch sein. Kein Rauch ohne Feuer – die Engländer können wirklich keinen Elfmeter verwandeln. Bei Union scheint die Romantik besser aufgehoben zu sein als in meiner Heimat. Vielleicht wird der Klub gerade deswegen immer populärer unter britischen Fans, die als Touristen oder als Auswanderer nach einer neuen Fußballliebe in Berlin suchen. Die lebendige Romantik von Eisern Union ist nicht so weit entfernt von der so gut wie toten Romantik des englischen Fußballs.

Das Stadion, zum Beispiel, wird oft mit englischen Stadien verglichen. Vier Tribünen ohne Ecken, eine Nähe zum Spielfeld, die in Deutschland sonst kaum zu finden ist, und natürlich die berühmte Stimmung. Mal abgesehen von Nina Hagens Union-Liedchen ist der Lärm im Stadion fast englisch: Die Gesänge sind origineller als bei anderen Klubs, die Texte mehr Zuschauern bekannt. Als der Ägypter Abdallah Gomaa zu seinem Debüt im Union-Trikot gegen den FSV Frankfurt eingewechselt wird, ist die Reaktion der Fans eher das, was ich aus englischen Stadien kenne: sofortige und uneingeschränkte Unterstützung. Überall sonst in Deutschland muss man normalerweise etwas leisten, bevor man Fußballgott wird. In Köpenick ist man das sowieso.

Es gibt da allerdings zwei Faktoren, die die Alte Försterei zu einem typisch deutschen Stadion machen: Bier und Stehplätze sind in England immer noch verboten. In Köpenick gibt es drei Stehplatztribünen und mehr als genug Bierfässer. „Deswegen kommen die meisten Engländer“, sagt Mark Wilson, der mit seinem Kumpel Andrew Cherrie die Website „Union in Englisch“ gründete. „Sie wollen die Stimmung erleben – und sie wollen Bier trinken.“

„Union in Englisch“ ist die größte Organisation, die Informationen und Hilfe für englischsprachige Union-Fans bietet. Viele sind Engländer, und viele wollen Bier trinken. Beim Spiel gegen den FSV Frankfurt fragt mich ganz aufgeregt ein englischer Bursche, der zum ersten Mal bei Union ist: „Wie blau werde ich denn heute Abend?“

Im Januar bei einem Testspiel, wieder gegen Bielefeld, finde ich dazu eine Gruppe Engländer, die zum Junggesellenabschied nach Berlin gefahren sind. Sie merkten nicht, dass es kein Ligaspiel ist, und sind deswegen ein bisschen enttäuscht, dass nur rund 2000 Zuschauer gekommen sind. Aber sie setzen das Abenteuer fort. Schließlich sind sie vor allem zum Biertrinken gekommen, diesen Vorsatz setzen sie jetzt konsequent um.

"Ich wäre nie zu Hertha gegangen"

Mark Wilson (links) und Andrew Cherrie sind die Gründer der Website "Union in Englisch".
Mark Wilson (links) und Andrew Cherrie sind die Gründer der Website "Union in Englisch".

© Union in Englisch

Allerdings sind es nicht nur die Touristen und die Hobby-Säufer, die zur Anglisierung des 1. FC Union beitragen. Bei „Union in Englisch“ haben die Dauerkarteninhaber Mark und Andrew normalerweise eine Gruppe von zehn bis fünfzehn englischen oder englischsprachigen Fans, die ins Stadion mitkommen. Warum denn zu Union? Warum nicht zu Hertha? Andrew Cherrie sagt, dass er bei seiner Ankunft in Berlin zu beiden Klubs gegangen ist. Hertha mochte er auf Anhieb nicht: „Dort musste man bezahlen, um das Stadion anzugucken, bei Union waren alle total freundlich, obwohl ich gar kein Deutsch konnte.“

Genauso sieht das Jon Darch auch. Darch ist seit dieser Saison Union-Mitglied, wohnt aber meistens in England, wo er mit der „Safe Standing Roadshow“ eine Kampagne für die Wiedereinführung von Stehplätzen in englischen Stadien organisiert. „Ich wäre nie zu Hertha gegangen“, sagt er. „Das Olympiastadion ist zwar historisch und architektonisch faszinierend, aber als Fußballstadion ist es scheiße. Zu Union gehe ich nicht so sehr, um Fußball zu schauen. Es ist eher das einzigartige Gemeinschaftsgefühl, das ich genießen will“, und eben das gelte für die meisten englischen Zuschauer in der Alten Försterei. „Ich glaube, dass unsere Faszination in Sachen Union daher rührt, dass der Fußball bei uns zu Hause seine Seele an den Kommerz verloren hat. Union ist ein wunderbares Gegenstück dazu.“

Vielleicht ist dies das Geheimnis einer subtilen englischen Seele des Köpenicker Klubs. Das Bier, die Stehplätze und die Nina sind alle deutsch, aber die Stimmung ist so einzigartig und doch erkennbar, dass sie alle Engländer anzieht.

Union hat einen englischen Greenkeeper, er heißt James Croft und erklärt das Phänomen so: „Ich habe nie in meinem Leben so ein Familiengefühl bei der Arbeit gehabt. Die Fans laufen an mir vorbei und sagen: James, alles klar? Das ist doch ein Wahnsinn! So etwas würde ich nirgendwo anders finden.“

Croft ist eigentlich eher Rugby-Fan als Fußball-Fan, aber die Atmosphäre an der Alten Försterei hat ihn beinahe konvertieren lassen. Das Familiengefühl wird auch von Jon Darch, Andrew Cherrie und Mark Wilson als Grund für ihre Zuneigung angeführt. Sie beruht auf Gegenseitigkeit. Jeder Engländer, der in die Alte Försterei kommt, wird von den Union-Fans begeistert gefeiert. „Die nennen mich zwar Inselaffe, aber auch Rasengott“, sagt der Greenkeeper Croft, und auch Cherrie hat noch nie etwas Negatives über englische Fans gehört. Das ist schon bemerkenswert für einen Kultklub, der in Nina Hagens Hymne von sich behauptet, er würde sich niemals vom Westen kaufen lassen.

Es mag ein Klischee sein, aber es ist ein Klischee, das mehr Wahrheit in sich trägt als fast alle anderen Klischees im modernen Fußball. Deswegen kommen wir Engländer zu Union. Nicht, weil es eigentlich der bewundernswerteste Klub der Welt ist. Sondern weil die Romantik bei Union unserer eigenen Romantik ähnlich ist. Die Premier League hat diese englische Romantik erdrosselt. Das Klischee von Köpenick lässt uns wieder atmen.

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