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Kein Respekt vor den Sowjets. Polens Star Zbigniew Boniek leistet gegen Alexander Schiwadse (Mitte) und Sergei Baltatscha bei der WM 1982 quirligen Widerstand. Am Ende steht es 0:0 – Polen ist weiter.

© imago

Fußball-Filmfestival 11mm - Polens WM-Helden: Rebellen in kurzen Hosen

Polen legt sich mit dem großen Bruder UdSSR an, und mittendrin ein paar aufmüpfige Nationalspieler. Ein Film beim 11mm-Festival zeigt die Story der WM-Helden von 1982.

Der Schnurrbart ist ein bisschen struppiger geworden, aber die Locken leuchten noch immer so rot wie die untere Hälfte der polnischen Flagge. Zbigniew Boniek ist vor ein paar Wochen 57 Jahre alt geworden und hat seine Karriere vor einem Vierteljahrhundert beendet, aber wenn er von damals erzählt, von den 16 Monaten der relativen Freiheit, von der Zeit während und nach dem Aufbruch von Solidarnosc, dann ist alles wieder da. Die verrückte Kampagne der polnischen Nationalmannschaft vor der Fußball-Weltmeisterschaft 1982 in Spanien in den politischen Wirren vor und während der Verhängung des Kriegszustandes. So, wie Wladimir Putin heute die Krim als „untrennbaren Teil Russlands reklamiert“, mochte Leonid Breschnew im Kalten Krieg Polen nicht aus dem Warschauer Pakt entlassen. „Wir waren sozusagen die 16. Sowjetrepublik“, sagt Zbigniew Boniek.

Was der polnische Jahrhundertspieler über diese Zeit zu erzählen hat, ist in diesen Tagen beim Fußball-Filmfestival 11mm zu bestaunen. In „Mundial. The highest stakes”, einer aus Archivmaterial und aktuellen Interviews komponierten Geschichte, die der polnische Dokumentarfilmer Michal Bielawski erzählt. Alles beginnt im November 1980. In diesen Tagen ist Polen nicht mehr das Land, das es einmal war, ein treuer Vasall an der Seite der Sowjetunion. Es sind die Tage, in denen die inoffizielle Macht im Land bei Solidarnosc liegt, der vom Danziger Elektriker Lech Walesa angeführten Gewerkschaft. In Schwarz-Weiß-Bildern flackern die gewaltigen Aufmärsche der Arbeiter über die Leinwand. Eine Volksrepublik tritt in Streik gegen sich selbst, und noch ist nicht abzusehen, wie diese Konfrontation ausgehen wird.

Vor diesem Hintergrund trifft sich die polnische Nationalmannschaft am 28. November 1980 in einem Warschauer Hotel. Am nächsten Morgen soll es mit dem Flugzeug nach Italien gehen, ins Trainingslager für das erste WM-Qualifikationsspiel auf Malta. Am Abend zuvor brechen Torwart Jozef Mlynarczyk und Stürmer Wlodzimierz Smolarek noch auf zu einer heimlichen Spritztour in die Warschauer Innenstadt. „Sie haben halt ein paar Sodawasser getrunken“, sagt Zbigniew Boniek im Film. Es war wohl ein bisschen Geschmack in der Soda, denn als Mlynarczyk gegen 7 Uhr morgens zurückkommt, kann er sich kaum auf den Beinen halten. Trainer Ryszard Kulesza schickt ihn nach Hause.

Noch vor ein paar Monaten hätte sich niemand gewagt, diese Entscheidung auch nur zu kommentieren. Jetzt aber ist Polen in Aufruhr, und beseelt von Solidarnosc stellen Kapitän Wladyslaw Zmuda und seine Kollegen Zbigniew Boniek, Stanislaw Terlecki und Wlodzimierz Smolarek ihren Trainer vor die Wahl: Entweder Mlynarczyk fliegt mit oder wir bleiben alle hier! Terlecki, ein rebellischer Freigeist, verfrachtet den benommenen Mlynarczyk in seinen Privatwagen und fährt ihn hinter dem Bus her zum Flughafen. Dort wartet eine Abordnung des polnischen Fernsehens. Die Reporter sehen, wie der Nationaltorwart aus dem Auto taumelt, und als der Kameramann den Schlangenlauf filmen will, reißt ihm der aufgebrachte Terlecki das Netzkabel aus der Steckdose.

Trainer Kulesza will weiteres Aufsehen vermeiden und lässt Mlynarczyk doch mitreisen. Der Vorfall aber zieht schnell Kreise. Die angeschlagene Regierung wittert die Chance, die Öffentlichkeit von den Massenstreiks abzulenken, und inszeniert eine Pressekampagne gegen „die bösen Geister der Mannschaft“.

Die bösen Geister aber fliegen erst einmal nach Rom, wo ihr Anführer Terlecki schon die nächste Aktion ausgeheckt hat. Gegen das ausdrückliche Verbot des polnischen Fußballverbandes PZPN organisiert er eine Audienz bei Johannes Paul II. Der in seiner Heimat ungeheuer populäre Papst lässt die Fußballspieler zwar wissen, dass „Gott nichts mit Fußball zu tun hat“, posiert dann aber doch für Gruppenfotos mit den Spielern.

Jetzt bricht in Warschau Panik aus. Ein Foto der Rebellen mit dem Papst, der Hoffnungsfigur der katholisch geprägten Gewerkschaft – das ist so ziemlich das Letzte, was die Apparatschiks gebrauchen können. Die als Rädelsführer ausgemachten Spieler Boniek, Mlynarczyk, Terlecki und Zmuda werden sofort nach Hause geschickt, der Verbandspräsident persönlich eskortiert sie nach Warschau.

Ohne vier ihrer Besten quälen sich die Polen zu einem 2:0 auf Malta. Zurück in Warschau inszeniert der Verband einen Schauprozess. In der Rekonstruktion der Ereignisse sagt Terlecki aus, er habe das Hotel gegen 8 Uhr verlassen. Der Ankläger fährt ihn an: „So gut können Sie sich erinnern? War es nicht vielleicht 8.02 Uhr?“ – „Ach, vielleicht war es auch 8.03 Uhr, ich bin mir nicht sicher, wissen Sie, ich habe eine von diesen russischen Uhren.“ Grölendes Gelächter füllt den Saal. Der Verband fällt das vorgegebene Urteil: Terlecki und Boniek werden für ein Jahr gesperrt, Mlynarczyk und Zmuda für acht Monate, Smolarek für zwei. Trainer Kulesza tritt zurück. Heute sagt Boniek: „Das war der dramatischste Moment meiner Karriere!“

Einen Tag später verhängt Staatschef Wojciech Jaruzelski das Kriegsrecht über Polen. Die führenden Köpfe der Solidarnosc werden interniert. Sowjetische Panzer stehen vor der polnischen Ostgrenze. Die Zeit der relativen Freiheit ist vorbei.

Im Geiste von Solidarnosc. Die kickenden Rebellen Zmuda
Im Geiste von Solidarnosc. Die kickenden Rebellen Zmuda

© imago sportfotodienst

Das Militär hat Polen befriedet, jetzt braucht die Regierung keine kickenden Märtyrer mehr. Terlecki emigriert in die USA. Mlynarczyk und Zmuda werden früh begnadigt, Boniek ein bisschen später, und alle zusammen qualifizieren sie sich für die WM in Spanien. Bielawskis Film zeigt Bilder aus dem Archiv, wie Exilpolen die Mannschaft im WM-Quartier besuchen, selbstverständlich mit Solidarnosc-Fahnen, sie wehen auch bei den polnischen Spielen durch die Stadien. Ein Sieg über Peru reicht bei Unentschieden gegen Kamerun und Italien für den Einzug in die Zwischenrunde, in der gleich 3:0 gegen Belgien gewonnen wird, alle drei Tore schießt Zbigniew Boniek. Jetzt reicht im nächsten Spiel ein Unentschieden für den Durchmarsch ins Halbfinale.

Es ist eine Pointe der Zeitgeschichte, dass es in diesem Spiel gegen die Sowjetunion geht. Gegen die Hegemonialmacht in Osteuropa, die den General Jaruzelski vor die Wahl gestellt hatte: entweder Kriegsrecht oder Einmarsch. Die sowjetischen Spieler drücken und stürmen und schießen doch kein Tor. 0:0, die Polen stehen unter den letzten vier und alle weigern sie sich, mit ihren Gegenspielern die Trikots zu tauschen.

Vier Tage später geht das Halbfinale gegen Italien 0:2 verloren. Boniek fehlt gesperrt, wegen einer Gelben Karte, er hat sie kurz vor Schluss des Spiels gegen die Sowjets kassiert. Mit einem 3:2 über Frankreich erobern die Polen Platz drei, es ist ihr bis heute letzter großer Erfolg auf der internationalen Bühne.

Die kickenden Rebellen verdienen ihr Geld später allesamt außerhalb von Polen. Stanislaw Terlecki geht auf Wanderschaft durch die US-Profiliga. Jozef Mlynarczyk gewinnt 1987 mit dem FC Porto im Finale gegen Bayern München den Europapokal der Landesmeister. Wladyslaw Zmuda verteidigt in Italien für Verona und Cremona. Wlodzimierz Smolarek verdingt sich in Frankfurt und den Niederlanden, 2012 erliegt er einem Herzleiden. Und Zbigniew Boniek? Steigt bei Juventus Turin zum Weltstar auf und gewinnt dort ebenfalls den Europapokal. Später kehrt in die Heimat zurück und wechselt die Seiten. Seit Oktober 2012 steht Boniek dem polnischen Fußballverband als Präsident vor.

Das Fußball-Filmfestival 11mm läuft noch bis zum 1. April im Babylon am Rosa-Luxemburg-Platz. „Mundial. The highest stakes” kommt am Samstag um 19.45 Uhr in Kino 3 zur Aufführung.

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