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Frauenfußball-WM: Silvia Neid: Eine für alle

Schon als Spielerin konnte sie alles – dribbeln, passen, Tore schießen. Und auch als Bundestrainerin der Fußballfrauen scheint Silvia Neid immer zu gewinnen. Nun soll ihr Team im eigenen Land Weltmeister werden. Es geht um mehr als einen Pokal.

Er schickte sie in der 41. Minute aufs Feld, und in der 42. schoss sie ihr erstes Tor.

Es war am 10. November 1982 und in Koblenz, da wurde das erste Frauenländerspiel des Deutschen Fußball-Verbands DFB angepfiffen. Deutschland spielte gegen die Schweiz. Kurz vor der Halbzeitpause ließ der Trainer Silvia Neid auf den Platz, eine schmale 18-Jährige aus Walldürn, Tochter eines Amateuroberligaspielers, seit dem elften Lebensjahr Mitglied in Fußballvereinen mit Namen wie SV Schlierstädt oder SC Klinge Seckach. Und sie schien schon damals alles zu können. An Gegenspielerinnen vorbeidribbeln und aufs Tor schießen, passen und dirigieren. Sie schoss dann in Koblenz auch noch ein zweites Tor vor 5500 Zuschauern, die Deutschen gewannen mit 5:1. Und Silvia Neid?

Seit sie vor 29 Jahren das deutsche Nationaltrikot überstreifte, hat sie es nie wieder ausgezogen. In der Geschichte der Frauen-Nationalmannschaft hat es fast kein Länderspiel gegeben, an dem sie nicht beteiligt war – als Spielerin, Assistenztrainerin oder Cheftrainerin. 111 Mal lief Neid selbst für Deutschland auf, die Erfolge kamen und gingen. Aber der Frauenfußball in Deutschland wurde immer größer. Am Sonntagabend werden sich 73 000 Zuschauer das Eröffnungsspiel im Berliner Olympiastadion ansehen, und auf Silvia Neid kommt es mehr an denn je.

Es macht aber nicht den Eindruck, als hätte sie daran übergroße Freude. Es ist kurz vor Mitternacht, und der Bus fährt immer noch nicht los. Eigentlich sollten die deutschen Fußballfrauen den Parkplatz vor dem Mainzer Stadion längst verlassen haben, Silvia Neid sitzt schon eine ganze Weile auf ihrem Platz in der ersten Reihe, jede ihrer Spielerinnen muss an ihr vorbei. Aber es kommt keine.

Die Deutschen haben gerade gegen WM-Mitfavorit Norwegen im strömenden Regen 3:0 gewonnen, die Bundestrainerin hat anschließend routiniert Fernsehinterviews gegeben. Trotz des klaren Sieges musste sie sich anhören, welche Stürmerin sie eigentlich hätte aufstellen sollen. Als wenn es den überwiegend männlichen Reportern nur darum ginge zu erfahren, ob es bei den Frauen auch einen Fall Ballack gibt. Jetzt sieht sie erschöpft aus, neben ihr hat Teammanagerin Doris Fitschen schon die Augen geschlossen. Der Busfahrer knipst das Licht aus, draußen vor dem Bus flackern die Blitzlichter der Fotoapparate.

Es sind nur ein paar Schritte von der Umkleidekabine herüber zum Bus, doch die Spielerinnen brauchen sehr lange, um sich ihren Weg durch das Spalier der Fans zu bahnen. Kleine Mädchen fragen mit großen Augen nach Fotos, sogar junge Männer in weißen Trikots wollen Autogramme auf die Brust gekritzelt bekommen. In dieser Begeisterung gerät das von Silvia Neid perfekt geplante Unternehmen ins Stocken. Die 47-Jährige und der deutsche Frauenfußball haben schon viele Hindernisse überwunden – kreischende Fans gehörten bisher nicht dazu.

Erst kurz nach Mitternacht setzt sich der Bus in Mainz in Bewegung, da ist die WM 2011 wieder einen Tag näher gerückt, die ein nationales Ereignis werden soll. Alle sprechen vom nächsten Sommermärchen. Das Spiel gegen Norwegen in Mainz sahen sich bereits knapp 5,8 Millionen Zuschauer im Fernsehen an, bei der WM werden alle Spiele live übertragen, das gab es noch nie. Und auf Silvia Neid lastet die Erwartung, den dritten WM-Titel in Folge zu gewinnen. Sie kann nicht mehr im Schatten agieren.

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Sich ihr zu nähern, ist nicht unmöglich, aber man muss sich auf vieles gefasst machen. Sie kann sehr charmant und schlagfertig sein, sogar witzig, aber auf persönliche Fragen reagiert sie einsilbig. „Wie habe ich mich verändert? Ich bin immer noch genau so motiviert, ... ja ...“, sagt sie und verstummt. Vor ein paar Wochen sitzt die kleine blonde Frau im Trainingslager in Köln zusammengesunken auf ihrem Stuhl und hat keine Lust mehr. Es sind ja sowieso immer dieselben Fragen. Neid ist erkältet, trinkt Kamillentee, gerade ist das Vormittagstraining zu Ende gegangen, und wieder einmal fällt das Wort „Titelverteidigung“. Ihr zierlicher Körper unter der weiten DFB-Jacke sackt auf dem Stuhl noch weiter in sich zusammen. Sie verschränkt die Arme. „Es gibt nichts zu verteidigen“, sagt sie dann und gibt sich nicht einmal mehr Mühe, ihre Langeweile zu verbergen. „Wir wollen etwas gewinnen.“

Den Rummel kennt sie eigentlich. Wenn es früher für die Nationalmannschaft einen Termin gab, musste meist Silvia Neid hingehen. „Sie ist die ideale Frau für die Medien“, schrieb die „Süddeutsche Zeitung“ 1995, „blond und zierlich“, das war damals als Lob gemeint. Und auch Tina Theune- Meyer, mit der sie ab 1996 das Trainerteam bildete, sah in ihrer Assistentin Neid ihre logische Nachfolgerin. „Es kann keine andere geben“, sagte sie 2005, als sie ihren Posten an Neid übergab. Seither hat sie den Frauenfußball geprägt und Titel gesammelt wie keine andere, jedes Großturnier gewonnen, bis auf Olympia. Was treibt sie da noch an?

Ende April in Köln. Silvia Neid hat erstmals alle Nationalspielerinnen versammelt. Es ist sehr warm, sie hat sich die schwarze Trainingsjacke elegant um die Schultern gebunden. Dazu die weißen Perlohrringe wie immer, sie achtet sehr auf ihr Äußeres, den Hosenanzug an der Seitenlinie hat sie eingeführt. Im bürgerlichen Kostüm gibt sie ihren Mädchen das Signal, dass die jetzt allein zurechtkommen müssen.

Nun aber auf der Tribüne des kleinen Trainingsstadions in Köln stemmt Neid ihre Füße auf den Plastikschalensitz der Vorderreihe. Während Konditionstrainer Norbert Stein die Mannschaft über den Rasen scheucht, scherzt die Chefin mit Mitarbeitern. Sie wirkt gelöst, dies ist die Rolle, die ihr liegt. Sie hat es geschafft, dass sie gar nicht eingreifen muss.

Auf dem Rasen hüpfen die Spielerinnen über Plastikringe, vor und zurück. Auf Kommando sollen sie dann nach vorne, rechts oder links lossprinten. Die Übung ist kompliziert, als Norbert Stein zum ersten Mal „los“ brüllt, laufen alle in die falsche Richtung. Nur Celia Okoyino da Mbabi macht es richtig. Alle lachen. Da ist Neid hellwach. „Celia, das hab’ ich gesehen!“, ruft sie von Weitem.

Okoyino da Mbabi reißt grinsend die Arme hoch und brüllt: „Ein Plus für mich, bitte!“ Neid hebt beide Daumen. Notiert.

In Köln sind noch 26 Spielerinnen dabei, fünf muss die Bundestrainerin aussortieren. Als sie vier Wochen später ihren endgültigen Kader berufen wird, ist Okoyino da Mbabi dabei. In der Vorbereitung entwickelt sich die 22-Jährige zu einer starken Alternative im Sturm und schießt drei Tore. Neid hat einen guten Riecher für Talente.

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Ein solches war sie auch einmal. Mit glänzender Technik und sehr laufstark agierte Neid im Mittelfeld, war schon damals die Anführerin, allerdings in einer Sportart, die kaum wahrgenommen wurde. Zu verdienen gab es für die Fußballerin nichts. Also machte Neid nebenher eine Ausbildung zur Fleischerei-Fachverkäuferin, später arbeitete sie in einem Blumengroßhandel und schließlich bei der AOK. Sie hätte sich gern selbstständig gemacht, in Siegen, wo sie seit Jahren lebt, wollte eine Lotto-Annahmestelle oder vielleicht eine Boutique eröffnen, als sie 1996 ihre Karriere als Fußballerin beendete. Es kam anders. Berti Vogts rief an. Der damalige Bundestrainer der Männer fragte, ob sie sich vorstellen könne, selbst Trainerin zu werden. Silvia Neid hatte keine Trainererfahrung, keinen Trainerschein. Und sagte ohne zu zögern zu.

Bis 2016 wurde ihr Vertrag jetzt verlängert. Längst ist sie Leiterin eines „40-Mann-Unternehmens“, wie sie es nennt. Sie hat mehrere Assistenztrainer dabei, einen Torwarttrainer, einen Psychologen, Videoexperten und einen Koch. Silvia Neid fordert vor allem eins: Disziplin. Wenn ihr etwas nicht passt, kann die kleine Person unerwartet laut werden. „Impulsiv“ nennt das Birgit Prinz, eine der wenigen älteren Spielerinnen des Kaders, die mit Neid selbst noch zusammengespielt hat und sie „Silv“ nennt. Die jüngeren müssen ihre Trainerin mit „Frau Neid“ anreden. Das Duzen soll sich rauswachsen. „Wenn Trainer von Spielern geliebt werden“, sagt Neid, „ist es schon vorbei.“

„Sie hat es verstanden, sich ein Kompetenzteam aufzubauen, auf das sie voll vertrauen kann“, sagt Norbert Stein, während er die Spielerinnen mit einem Auge beobachtet, wie sie über den Rasen in Köln trotten. Stein lehnt an der Balustrade der Tartanbahn, die Sonne spiegelt sich auf der Glatze des 57-Jährigen, ein herzlicher, offener Mensch, der gerne plaudert. „Wenn ich als Experte etwas sage, dann hört sie darauf“, sagt er. „Da sagt man gerne Chefin.“

Das Team ist ihre Ersatzfamilie. Silvia Neid ist Single geblieben, hat ihr Privatleben dem Sport untergeordnet und außerdem auf ihre Art dafür gesorgt, dass man nichts darüber weiß. „Ich trauere da nichts nach“, ist alles, was sie preisgibt. Und dass sie gerne Rotwein trinkt und ihre Freizeit auf dem Golfplatz verbringt. Aber je näher die WM rückt, desto größer wird das Interesse an ihrer Person, sie hat das Zehnfache an Medienanfragen im Vergleich zur WM 2007. Ein besonderes Training hat sie dafür nicht bekommen, dachte, das sei nicht nötig. Doch vielleicht hat sie sich überschätzt.

Als sie sich Ende März beim Pokalfinale der Frauen in der Halbzeitpause weigert, ein Fernsehinterview zu geben, erregte sich nicht nur die Boulevardpresse, sondern auch der DFB. Neid sprach von einem Abstimmungsproblem und war überrascht, „dass man aus so einer Mücke einen Elefanten macht“. Sie will sich auf ihre Arbeit als Trainerin konzentrieren, am liebsten nur über Taktik und Technik sprechen, doch das wird immer schwieriger. In der Öffentlichkeit gibt es keinen Busfahrer, der das Licht ausmacht.

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Sie war Mitte 20, als sie ein Angebot vom „Playboy“ bekam. Es ging um eine fünfstellige Summe – viel Geld, und sehr viel mehr, als sie in ihrer Karriere zuvor je auf einmal verdient hatte. Sie lehnte ab, weil sie nicht wollte, dass der Sport, für den sie steht, auf nackte Körper reduziert wird. Auf die Frage, ob es sie ärgert, dass Jugendnationalspielerinnen des DFB sich heute anders entscheiden und für Geld ausziehen, sagt sie lakonisch: „Die Zeiten ändern sich.“ Auch sie war damals immerhin eitel genug, sich über das Angebot zu freuen.

Von Weitem sieht sie immer noch jugendlich aus, nur die kurzen blonden Haare sind inzwischen gefärbt. Sie geht regelmäßig ins Fitnessstudio, während eines WM-Trainingslagers macht sie die Aerobic-Übungen des Teams mit und müht sich ab bei hämmernder Techno-Musik. Aus der Ferne ist die 1,66-Meter große Person kaum von den Spielerinnen zu unterscheiden. Erst aus der Nähe sieht man die tiefen Falten um Mund und Augen. Immer wieder betont sie in diesen Tagen, dass das mit dem dritten WM-Titel in Folge gar nicht so einfach sei, wie sich das alle vorstellen würden. Hören will das allerdings niemand.

Denn plötzlich besteht auch die Möglichkeit, Frauenfußball zu Geld zu machen. Adidas hat ein neues Trikot für Neids Mannschaft entworfen, erstmals ein eigenes, tailliert geschnitten. Die Chefin muss deshalb im Mai einen Teil der WM-Vorbereitung beim Ausrüster in Herzogenaurach absolvieren, im firmeneigenen Adi-Dassler-Stadion ist ein öffentliches Training angesetzt. Lautsprecherboxen beschallen die kleinen Tribüne mit „I’m Walking On Sunshine“. Es regnet.

Adidas-Vorstandschef Herbert Hainer steht unter einem Baldachin, von dem das Regenwasser auf die Tartanbahn tropft, und verkündet staatsmännisch, Adidas werde auch bei der Frauen-WM zeigen, wer der Weltmarktführer in Sachen Fußball ist. Ein paar Meter entfernt steht Silvia Neid, man merkt ihr aber an, dass sie an einen anderen Führungsanspruch denkt. An ihren Füßen trägt sie Stollenschuhe, das tut sie immer, falls sie ihren Spielerinnen am Ball noch etwas vormachen muss. Dann wird Silvia Neid ans Mikrofon gebeten. „Ach“, fragt sie, „darf ich auch noch was sagen?“

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