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Sitzriese. Jerome Boateng

© dpa

Fußball-EM in Frankreich: Die vielen Leiden der deutschen Nationalmannschaft

War die EM erfolgreich? Oder eine Enttäuschung? Die deutsche Nationalmannschaft rätselt über das Turnier. Und wünscht sich einen Spieler, der den Ball ins Tor schießt.

Joachim Löw bewegte sich gut zwischen den Linien. Er schlängelte sich an den Kameraleuten vorbei, die den Zugang zum Kabinentrakt versperrten wie eine italienische Fünferkette, er fand die Lücke zwischen den beiden Werbetafeln für die Flash-Interviews, passte den richtigen Moment ab und ging dann auf Didier Deschamps zu, den Nationaltrainer der Franzosen. Sie umarmten sich, hauten sich gegenseitig auf den Rücken, ein kurzer Plausch, dann schlenderte der Bundestrainer weiter, mit hochgeschobenen Ärmeln und den Händen in den Hosentaschen.

Löw ging langsam, hart an der Mittellinie entlang. Von oben sah es aus, als benötigte er die Kreidemarkierung, um nicht ziellos über den Platz zu irren. Es gibt ein paar Regularien, ein paar ungeschriebene Gebote der Höflichkeit, die einem in solchen Situationen Orientierung geben. Als Löw am Mittelkreis angekommen war, blieb er kurz stehen, er ging weiter zu den Männern in Schwarz, schritt ihre Reihe ab wie bei einem Empfang fürs diplomatische Corps und gab jedem der fünf Schiedsrichter die Hand. Zwei französische Ersatzspieler kreuzten noch seinen Weg. Dann verschwand Joachim Löw, der Trainer des geschlagenen Weltmeisters, gemessenen Schrittes. Die schweren Gedanken nahm er mit.

Wie konnte das passieren? Was haben wir falsch gemacht? Was habe ich falsch gemacht?

„Heute ist relativ wenig schiefgelaufen“, sagt Löw, als er wenig später im Stade Velodrome zwei Etagen unter null vor der Presse sitzt. Man kriegt hier unten, in einem Schutzraum aus Beton, nichts mit von dem, was zur selben Zeit rund um das Stadion los ist, in der Stadt, im ganzen Land. Die Autos hupen, die Menschen singen. Als Löw und die Franzosen im November zuletzt aufeinander getroffen sind, haben beide Mannschaften zusammen im Keller des Stade de France ausgeharrt, gefangen in gemeinsamer Angst, weil auf den Straßen von Paris der Terror tobte. Jetzt tobt auf den Straßen Marseilles die Freude über den 2:0-Sieg gegen den Weltmeister und den Einzug ins EM-Finale. Für eine lange Nacht vergessen die Menschen, dass sie immer noch in einem Land im Ausnahmezustand leben, in dem auf jedem größeren Bahnhof Soldaten mit Maschinenpistolen patroullieren.

Joachim Löw hätte Deutschland gerne auf eine andere Weise in einen Ausnahmezustand versetzt. Je länger das Turnier dauerte, desto zuversichtlicher wurde er. Er hat entschlossen gewirkt, trotzdem gelöst und hat alles mit den entsprechenden Gesten untermalt. Anfang der Woche, nach dem ersten Pflichtspielsieg gegen Italien überhaupt, saß er in Évian auf dem Podium. Seine Mannschaft würde nun gegen Frankreich spielen, gegen den Gastgeber, gegen 60 Millionen Franzosen. Einmal hielt Löw seine geballte Faust in die Kameras und nickte zur Bestätigung heftig mit dem Kopf: Ja, wir packen das.

Am Donnerstag, kurz vor Mitternacht sitzt ein anderer Löw vor der Presse. Sein Gesicht ist von der Arbeit im Freien bauarbeiterbraungebrannt. Er sieht aus, als käme er gerade aus dem Urlaub. Aber wenn man genauer hinschaut, erkennt man die Müdigkeit in seinem Gesicht. Sechseinhalb Wochen sind vergangen, seitdem die Mannschaft zur Vorbereitung in die Schweiz geflogen ist. Marco Reus ist für das Turnier ausgefallen, Antonio Rüdiger hat sich im ersten Training in Évian das Kreuzband gerissen, Bastian Schweinsteiger hat hart um seine Fitness gerungen, für das Halbfinale musste Löw drei Stammspieler ersetzen. Es war hart, aber drei Tage mehr, das Finale am Sonntag, das hätte Löw auch noch geschafft.

Auf derselben Etage des Stadions ziehen die deutschen Spieler durch die Mixed-Zone. Sie sprechen leise, starren an den Journalisten vorbei ins Nichts und sind kurz angebunden. Auch in der Kabine war es still. „Es wurde nicht viel geredet“, erzählt Torhüter Manuel Neuer, „ist doch klar.“ Thomas Müller, der den Spitznamen „Radio Müller“ hat, weil er eigentlich immer auf Sendung ist, sagt vier Sätze, bevor er in die laue Nacht verschwindet. An Bastian Schweinsteiger sind drei Fragen gestattet. Man hört immer wieder die Wendung „komisches Turnier“. Oliver Bierhoff, der Manager der Nationalmannschaft, benutzt den Begriff. Mal kommt er in den Fragen der Journalisten vor. „Unser Turnier war nicht komisch“, antwortet Torhüter Neuer. „Wir haben ein gutes Turnier gespielt.“

Titelverteidiger Spanien ist schon im Achtelfinale gescheitert, England an Island gescheitert, Portugal hat bis zum Halbfinale kein einziges Spiel in den regulären 90 Minuten für sich entscheiden können. Aber Portugal, das für die Deutschen eigentlich nur Cristiano Ronaldo plus zehn andere ist, steht am Sonntag im Finale, während die Veranstaltung für die Nationalelf vorzeitig beendet ist.

Irgendwie ist das alles schwer zu greifen. War es ein gutes Turnier für die Deutschen, weil sie zum sechsten Mal hintereinander unter die letzten vier gekommen sind und immerhin das historische Italien-Trauma besiegt haben? Oder war es eine mäßige EM, weil ein Aus im Halbfinale für den Weltmeister natürlich eine Enttäuschung ist? „Am Ende bleibt nix", sagt Mats Hummels, der gegen die Franzosen gelbgesperrt gefehlt hat. „Der Weltmeister will gewinnen. Wenn er das nicht schafft, ist das kein Erfolg.“

Wird Löw seinen Vertrag erfüllen?

Komisches Turnier oder nicht: Es hat für die Deutschen zumindest ein komisches Ende genommen. „Wir haben uns als Mannschaft gesteigert und müssen leider nach dem besten Spiel von uns nach Hause fahren“, sagt Toni Kroos, der bei der EM auch von der breiten Öffentlichkeit zum ersten Mal die Anerkennung erfahren hat, die sein Spiel schon lange verdient. Kroos war der Stratege mit den Füßen, der seinen Ordnungssinn auf das ganze Team übertragen hat. Auch im Halbfinale haben die Deutschen Kroos-Fußball gespielt. Es ist nicht das Schlechteste, was sich über den Auftritt sagen lässt.

Trotzdem wird Joachim Löw später die Frage gestellt, die einem Bundestrainer immer gestellt wird, wenn er bei einem großen Turnier nicht mindestens das Finale erreicht hat. Löw weiß das, dennoch wirkt er ein bisschen überrumpelt, als die Erkundungen zu seiner beruflichen Zukunft angestellt werden. Bis zur WM 2018 läuft sein Vertrag noch. Aber wird er ihn auch erfüllen? Im ZDF sagt Löw: „Hm, ich denke mal.“ Das reicht in der aufgewühlten Stimmung schon, um ein Gefühl des Zweifels zu erwecken. Die Spieler werden später einvernommen, ob sie mehr wüssten über die Pläne des Bundestrainers. Tun sie nicht.

Vermutlich hat sich Löw einfach nicht mit den Folgen einer Niederlage beschäftigt, weil er sich nicht mit einer Niederlage beschäftigt hat. „Heute Abend kann ich nicht weit vorausgucken“, sagt er. „Nicht mal bis morgen früh. Aber das ist für mich keinen Gedanken wert.“ Löw hat schon immer gesagt, dass er die Turniere liebe, dass die Anspannung für ihn positiver Stress sei. Andererseits hat er anschließend auch immer Monate gebraucht, um wieder ins normale Leben zurückzufinden. „Wie ich das verarbeiten werde, ist schwierig zu beantworten“, sagt er. Nach der Halbfinal-Niederlage vor vier Jahren, dem desillusionierenden 1:2 gegen Italien, hat sich Löw sechs Wochen verkrochen und sein Umfeld mit den Zweifeln allein gelassen. Niemand wusste, ob er quasi im Affekt hinschmeißt. Am Ende kam Löw entschlossener denn je zurück. Zwei Jahre später war er Weltmeister.

Die Niederlage gegen Frankreich ist anders als die gegen Italien oder zwei Jahre zuvor, im WM-Halbfinale gegen Spanien. „Als wir 2012 und 2010 ausgeschieden sind, hatten uns die Gegner etwas voraus“, sagt Löw. „Heute war das nicht der Fall. Heute hatten wir Frankreich etwas voraus – außer die Tore.“ Seine Mannschaft ist in der Lage, den Fußball zu spielen, den Löw liebt: offensiv, dominant, forsch. „Es gab eine unglaublich gute Energie in der Mannschaft“, sagt er. Warum also sollte er diese Mannschaft einem anderen überlassen, anstatt bei der WM zu versuchen, mit ihr den Titel zu verteidigen? „Für ihn ist so ein Turnier eine sehr intensive Zeit. Ich weiß, dass er danach Kraft tanken und ein bisschen Abstand gewinnen will“, sagt Manager Bierhoff. „Aber ich gehe davon aus, dass es so weitergeht.“

Vor vier Jahren ist Löw nach dem EM-Aus für seine verfehlte Taktik verantwortlich gemacht worden. Diesmal ist ihm nichts vorzuwerfen. Der Bundestrainer hatte einen zusätzlichen Mittelfeldspieler gebracht und damit die Kontrolle über das Spiel gewonnen. Fast die gesamte erste Halbzeit liefen die Franzosen nur dem Ball hinterher. „Wir haben wahnsinnig viel investiert, hatten eine machtvolle Körpersprache, waren in den Zweikämpfen gut, haben viel nach vorn gespielt“, sagt Löw. Auf den Rängen in Marseille, der vielleicht feurigsten Stadt Frankreichs, haben die Menschen in Blau die deutschen Fans meist übertönt – aber auf dem Platz sind die Blauen deutlich unterlegen. 68 Prozent Ballbesitz weist die Statistik am Ende für den Verlierer aus. „Es war ein sehr schweres Spiel gegen einen Gegner, der uns hat leiden lassen“, sagt Nationaltrainer Deschamps. Aber am Ende leiden nur die Deutschen.

Sie leiden daran, dass ein Handspiel von Kapitän Schweinsteiger alles verändert. Leiden an ihrer fehlenden Effizienz, an ihrer mangelnden Fähigkeit zur Zuspitzung. Erst als es 0:2 steht, drängen sie mit Macht auf das französische Tor. In den letzten 20 Minuten kommen sie zu sechs teils herausragenden Möglichkeiten. „Wir hatten alles, um dieses Spiel und dieses Turnier zu gewinnen“, sagt Mats Hummels. „Aber es hat einer gefehlt, der den Ball reinschießt.“ Und so steht dieses Spiel am Ende sinnbildlich für die gesamte EM: Die Deutschen haben es ordentlich gemacht, sie sind in den ersten vier Spielen ohne Gegentor geblieben, sie haben gezeigt, dass sie lernfähig sind – aber der letzte Kick hat gefehlt. Ukraine, Nordirland, Slowakei - bei allem Respekt, das sind Gegner, die man einfach schlagen muss. Der Sieg gegen Italien war historisch – aber eben auch glücklich, weil die Mannschaft trotz ihrer Überlegenheit am Ende ein Elfmeterschießen benötigte. Das Paradoxe ist, dass die Deutschen nach ihrer stärksten Leistung gegen den stärksten Gegner ausgeschieden sind.

Es ist genauso paradox wie die Geschichte von Mario Gomez. Niemand hat ihn vermisst, als er vor zwei Jahren nicht für die WM in Brasilien nominiert worden war. Niemand hat laut gejubelt, als er von Löw vor einem halben Jahr zurückgeholt wurde, und niemand hätte sich vor vier Wochen vorstellen können, dass sein Fehlen gegen die Franzosen einmal am lautesten beweint werden würde. Aber genauso kam es.

Gomez hat während des Turniers eine sehr gute Figur abgegeben, auf und neben dem Platz. Er hat als Ersatzspieler angefangen, hat zwei Tore erzielt und in gewisser Weise den klassischen Strafraumstürmer rehabilitiert. „In meinen Augen braucht man gegen extrem tief stehende Gegner richtige Mittelstürmer, die im Strafraum etwas ausstrahlen“, sagt Hummels. „Da tut einer wie Mario Gomez mit seiner körperlichen Wucht und Kopfballstärke sehr gut.“ Nie fehlte Gomez so sehr wie gegen die Franzosen, deren Abwehr mit seinem Vertreter im Halbfinale, dem knochigen Thomas Müller, nicht die geringsten Probleme hatte.

Gomez hat seine Rückkehr ins Nationalteam wie ein Geschenk empfunden. Selbst wenn er nur eine Minute hätte spielen dürfen, so hat er immer wieder gesagt, wäre er zufrieden gewesen. Am Ende war er Stammspieler, verletzte sich aber gegen Italien so schwer, dass die EM für ihn vorzeitig beendet war. „Ich bin in solchen Dingen immer sehr vorsichtig, aber ich kann sagen: Das ist fast Liebe“, sagte Gomez am Donnerstagabend über die Wochen in Frankreich. Genau dafür hat er gekämpft und sich geschunden, und als er vor einem Jahr den Termin des Endspiels gesehen hat, hat ihn das noch mehr angetrieben. Der 10. Juli ist sein Geburtstag. Mario Gomez wird am Sonntag 31. Er hat damals gedacht, das könnte ein guter Tag für ihn werden. Doch Gomez wird am Sonntag im Stade de France nicht auf dem Platz stehen.

„Mit der Familie Finale schauen ist auch schön“, sagt er.

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