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Spielanalyse im Fußball: Anleitung für den EM-Titel

Der Technische Bericht der Uefa fasst zu jedem Turnier ausführlich Zahlen und Expertenwissen zusammen, auch für die letzte Europameisterschaft 2008. Daraus lässt sich ein Erfolgsleitfaden für 2012 erstellen. Ein Versuch.

Der Technische Bericht der Uefa fasst zu jedem Turnier ausführlich Zahlen und Expertenwissen zusammen, auch für die letzte Europameisterschaft 2008. Daraus lässt sich ein Erfolgsleitfaden für 2012 erstellen. Ein Versuch.

Berlin - Was sollte der erfolgshungrige Trainer machen, wenn er nach dem Endspiel am 1. Juli in Kiew biergetränkt und mit dem Pokal in den Händen aus dem Stadion verabschiedet werden will? Wenn er sich an die erfolgreichen Teams von 2008 hält, sollte er auf US-amerikanische Fitnessexperten und ausgiebige Trainingsspielchen vertrauen. Standardsituationen und Kondition kann er ruhig vernachlässigen. Der Trainer sollte seine Mannschaft im 4-2-3-1 oder im 4-1-4-1 aufstellen, das beim Verteidigen zum 4-5-1 wird. Dabei sollte er passsichere Mittelfeldspieler schnellen Außendribblern vorziehen. Er sollte mindestens so viel über seine Wechsel sinnieren wie über die Startaufstellung, konterstarke Ergänzungsspieler spart er sich bis zur entscheidenden Schlussphase auf. Der Trainer hat dann die Erkenntnisse der Vergangenheit in die Gegenwart mitgenommen. Er wird nicht einmal aus der Haut fahren, wenn der größte Grobmotoriker seiner Elf nach einem Gegner tritt oder den Ball unbedarft in Richtung eigenes Tor schießt. Denn 2008 gab es nur drei Platzverweise – und überhaupt kein Eigentor

Die Spanier sind 2008 dank perfekter Ballzirkulation überlegen, die Deutschen steigern sich im Turnierverlauf, die Russen überraschen positiv mit ihren Pferdelungen und die Gastgeber negativ mit ihren schwachen Nerven. Die Erinnerung an die EM 2008 in Österreich und der Schweiz ist für die meisten Fans längst zu stereotypen Fragmenten zusammengeschrumpft. Lediglich Erinnerungsfetzen gelangen noch an die Oberfläche: Fernando Torres' entscheidendes Finaltor gegen die gedanklich langsamen Philipp Lahm und Jens Lehmann. Der TV-Blackout im Halbfinale gegen die Türkei. Das schmerzverzerrte Gesicht des so bemühten wie glücklosen und dann verletzten Schweizer Kapitäns Alexander Frei.

Abseits all dieser 2008 zum ersten Mal auch in Superzeitlupe festgehaltenen Emotionen liefert der „Technische Bericht“, die offizielle spieltaktische Turnierauswertung des europäischen Verbandes Uefa, einen objektiven Blick auf die letzte Europameisterschaft. Er wurde von einem renommierten Expertenteam verfasst – dem beispielsweise die Trainer Roy Hodgson, Gerard Houllier und Holger Osieck angehörten – und nimmt sämtliche 31 Spiele und 77 Tore Schicht für Schicht auseinander. Aus dem Bericht lässt sich eine Matrix für den großen Triumph in Polen und der Ukraine erstellen.

Die Anleitung zum EM-Sieg kommt natürlich nicht ohne den Champion Spanien aus. Ballbesitz, Ballbesitz, Ballbesitz – und immer an den nächsten freien Mitspieler denken. Überraschend ist, dass die gefühlt dauernd quer passenden Spanier die höchste Quote an nach vorne gerichteten Zuspielen aller Mannschaften aufwiesen. Ein Drittel aller langen spanischen Ballstafetten im Finale gegen Deutschland mündete in einem Torabschluss. „Wenn du kleiner bist, musst du gewitzter und schneller sein und dich zwischen den gegnerischen Reihen bewegen“, kommentierte Houllier das Spiel der spanischen Ballzirkulationisten.

Die meisten Teams verzichteten auf lange Bälle, sowohl nach vorne als auch zum Wechseln der Seiten. Ebenso kamen sie weitgehend ohne wendige, offensive Außenspieler aus, noch vor gar nicht langer Zeit wichtiger Bestandteile taktisch meisterhafter Teams. Neben dem „Spanischen Ansatz“, also dem sicheren Durchkombinieren fast bis ins gegnerische Tor hinein, haben sich vor allem schnelle Gegenstöße als das probateste Mittel erwiesen; fast die Hälfte aller aus dem Spiel erzielten Tore kamen so zustande. „Es besteht kein Zweifel, dass die Bedeutung des Konterspiels bei der Euro 2008 eine neue Dimension erreicht hat“, fassen die Experten im Technischen Bericht zusammen.

Kaum eine Rolle spielten dagegen die Standardsituationen, nur ein direkt verwandelter Freistoß und ganze fünf Tore nach Ecken standen zu Buche. Bei der EM 2004 waren es noch doppelt so viele gewesen. Die Experten spekulierten, dass die lange Vorbereitungszeit den Trainern genug Zeit zum Studieren aller Ecken- und Freistoßvarianten der Gegner gegeben hätte, weshalb diese im Gegensatz zu früher keine wirkungsvolle Waffe mehr wären. Diesmal hat nicht nur der deutsche Bundestrainer Joachim Löw mit einer eher knappen Vorbereitungszeit zu kämpfen, 2008 hätten nach der Expertenmeinung die Trainer die viele Übungszeit vor allem zur Regeneration und zu Spielen Elf-gegen-Elf genutzt. Außerdem beschäftigten auffallend viele erfolgreiche Teams Fitnessgurus aus den USA.

Bei der Taktik werden vor allem die 2004 sensationell mit ihrer Defensivspielweise zum Titel gekommenen Griechen als Taktikdinosaurier beschrieben, aus dem Erfolg 2004 ließen sich keine Erkenntnisse gewinnen. Auch 2008 reisten sie als Einzige mit einem destruktiven Ansatz zum Turnier. Das Ergebnis ist bekannt: Spitze waren die Griechen nur in einer Statistik. Ihren einzigen Treffer erzielte Angelos Charisteas – 2004 beim 1:0-Finalsieg gegen Portugal ebenfalls erfolgreich –, damit wurden 100 Prozent der griechischen Tore von Stürmern erzielt. Insgesamt lag der Anteil der Stürmertore 2008 nur bei 40 Prozent. Erfolgsgaranten waren quer durch die Mannschaften vor allem Mittelfeldspieler wie der Spanier Xavi und der Deutsche Michael Ballack.

Die beiden Finalteilnehmer zeigen eine weitere Auffälligkeit: Sowohl Spanien als auch Deutschland liefen über das Turnier insgesamt weniger als ihre jeweiligen Gegner, das Löw-Team hatte nur im Viertelfinale gegen Portugal mehr Kilometer gemacht. Vielleicht hängt dies direkt damit zusammen, dass 2008 wie kaum je zuvor späte Tore über den Ausgang der Spiele entschieden. Die Türkei kämpfte sich fast ausschließlich mit Nadelstichen in der Nachspielzeit ins Halbfinale. Wer sich weniger verausgabt, kann am Ende mehr nachsetzen, könnte die Erkenntnis lauten. Dazu passt es, dass Einwechselspieler und ihre Tore so entscheidend waren wie bei keinem Turnier zuvor.

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