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Der Wendepunkt. Die böse Niederlage von Florenz 2006 hat den deutschen Fußball erschüttert, aber auch in Bewegung versetzt.

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Deutsche Nationalelf vor dem Spiel gegen Italien: Abkippender Angstgegner

Das letzte Länderspiel in Italien hat der deutschen Mannschaft den Weg in die Moderne gewiesen. „Manchmal braucht man ein negatives Erlebnis, um den richtigen Weg zu finden“, sagt Oliver Bierhoff heute über das 1:4 vor der WM 2006.

„Das ging doch ein bisschen in die Hose, oder?“, fragt Marcell Jansen. So genau weiß er das nicht mehr, obwohl er damals, am 1. März 2006, besten Blick auf das Geschehen hatte. Der Außenverteidiger saß in Florenz auf der Ersatzbank. Seine Erinnerungen an das Länderspiel sind trotzdem eher vager Natur: komisches Spiel, kann mal passieren, so ist Fußball. Das Ergebnis, 1:4, hat Jansen nicht mehr auf dem Schirm. Vielleicht will er es auch gar nicht mehr auf dem Schirm haben. Verdrängung ist schließlich auch eine Form der Verarbeitung. Allgemein aber hat das Spiel in Florenz noch lange nachgewirkt. Es war für die deutsche Nationalmannschaft so etwas wie der letzte Anstoß zur Veränderung.

Die Niederlage hat damals das ganze Land in Aufruhr versetzt. 100 Tage vor der WM im eigenen Land war die Nationalmannschaft als nicht konkurrenzfähig enttarnt worden war. „Das war schon ein einschneidendes Spiel“, erinnert sich Oliver Bierhoff, damals wie heute Manager der deutschen Nationalmannschaft. „Wir hatten keine sichere Erkenntnis, wo wir stehen.“ Nach der Pleite gab es erst recht keine Gewissheiten mehr. Sogar die Ablösung von Jürgen Klinsmann als Bundestrainer kurz vor der WM stand damals im Raum. Sein kompromisslos offensiver Ansatz galt spätestens nach Florenz als naiv bis selbstmörderisch. Selten war die Nationalmannschaft derart vorgeführt worden. Die Italiener hatten die deutsche Defensive regelrecht zerlegt. „Manchmal braucht man als Team ein negatives Erlebnis, um den richtigen Weg zu finden“, sagt Bierhoff. „Es ist schon ein Ruck durch die Mannschaft gegangen: Ab dem Spiel ging es bergauf.“

Florenz hat den Deutschen nicht nur gezeigt, dass es ohne Defensive nicht geht; das Spiel hat ihnen auch gewissermaßen den Weg in die fußballerische Moderne gewiesen. Ein paar Jahre zuvor hatte die Nationalmannschaft noch mit Libero gespielt, die Viererkette galt vielen immer noch als arg kompliziert. Mit dem Wissen von heute, da selbst Grundschüler über falsche Neuner und abkippende Sechser fachsimpeln, ist es nur schwer vorstellbar, auf welchem Niveau sich der fußballtheoretische Diskurs damals bewegt hat. Es war die Zeit, in der das Fachblatt „Kicker“ Christian Wörns gegen den Vorwurf in Schutz nahm, er könne nicht offensiv verteidigen: Schließlich schieße Wörns doch viele Tore.

Wenn die Nationalmannschaft heute in Mailand zum ersten Mal seit dem 1. März 2006 wieder auf italienischem Boden spielt, stehen sich längst nicht mehr Meister und Lehrling gegenüber. Schon drei Monate nach Florenz, im WM-Halbfinale 2006, begegneten sich zwei Mannschaften auf ähnlichem Niveau, die sich bis kurz vor Ende der Verlängerung gegenseitig neutralisierten. Auch aus dieser Erfahrung begegnet Klinsmanns Nachfolger Joachim Löw der ewig wiederkehrenden Debatte um Deutschlands Defensivschwäche mit Gelassenheit. 2006 hat er seinen Verteidigern erst in der unmittelbaren Vorbereitung auf die WM in einer Art Volkshochschulkurs das Funktionieren einer Viererkette eingebimst. Was damals geklappt hat, soll auch vor der WM in Brasilien wieder klappen.

„Wir sind in der taktischen Ausbildung konkreter geworden“, sagt Löw über den deutschen Fußball im Allgemeinen. Die Lücke zu den Italienern, die noch 2006 riesig war, scheint sich langsam zu schließen; trotzdem haben die Italiener das, was den Deutschen in ihrer neuen Verspieltheit manchmal noch fehlt: Klarheit und Selbstsicherheit. Mit ihren speziellen Stärken ist die Squadra Azzurra ein Gegenmodell zur Nationalmannschaft. Gerade deshalb ist sie für die Deutschen traditionell ein äußerst unangenehmer Gegner: Noch nie hat die Nationalmannschaft ein Pflichtspiel gegen Italien gewonnen, der letzte Sieg überhaupt liegt bereits 18 Jahre zurück. Und auch Löws persönliche Bilanz ist dürftig. In seiner Zeit beim Deutschen Fußball-Bund hat er von vier Spielen gegen Italien drei verloren. „Die Italiener sind Meister der Anpassung“, sagt er. „Sie sind sicher in ihren Handlungen, clever, abgebrüht. Und sie haken Dinge ab, spielen immer weiter.“

Genau diese Fähigkeit fehlt den Deutschen noch. Bei außerplanmäßigen Ereignissen geraten sie noch zu leicht ins Wanken. Das war beim 4:4 gegen Schweden (nach einer 4:0-Führung) genauso zu sehen wie im EM-Halbfinale vor einem Jahr gegen Italien (1:2). Doch gerade deshalb freut sich Löw auf das Wiedersehen in Mailand: Italien sei sein absoluter Wunschgegner. „Aus dem Spiel können wir einiges mitnehmen für die Zukunft“, sagt er. Es muss ja nicht gleich wieder so grundsätzlich werden wie vor siebeneinhalb Jahren in Florenz.

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