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Kontrapunkt: 2010: Die rasche Gewöhnung an den Ausnahmezustand

Viele Ereignisse, noch mehr Events. Kann es sein, dass wir vor lauter Aufregern die Entwicklungen übersehen? Tissy Bruns fragt im "Kontrapunkt", wo denn das „Primat der Politik“ abgeblieben ist.

Unser Gedächtnis lässt nach. Eine Nebenerkenntnis des Projekts „culturomics“, das den Reichtum der von Google digitalisierten Bücher als Steinbruch für die Erforschung der menschlichen Kultur nutzt. Bisher hat es – unter anderem – zutage gefördert, dass  Freud sich mehr eingeprägt hat als Einstein, die Technikentwicklung seit dem 19. Jahrhundert explosiv ist, der Wortschatz der englischen Sprache zwischen 1950 und 2000 um 70 Prozent gewachsen ist. Und dass der Ruhm erfolgreicher Menschen größer ist als jemals zuvor, allerdings auch schneller vergessen wird, so wie sich auch das Gedächtnis für wichtige Ereignisse verkürzt.

Brauchen wir das rasche Vergessen als Verarbeitung unserer Überforderungen oder, vornehmer gesagt, der wachsenden Komplexität? Der Blick auf das Jahr 2010 bestätigt diese Vermutung. Denn, wie mein (wahrscheinlich auch leidendes Gedächtnis) mir im Rückblick sagt, hat es noch nie in der jüngeren Zeit eine Anhäufung markerschütternder Entwicklungen gegeben, die mit einer Geschwindigkeit zum politischen Alltag geworden sind, als ginge es um nichts. Die demokratische Führungsmacht in unserer keineswegs demokratischen Welt ist in einem traurigen Zustand. Ganz nebenher wurde ihr Präsident, Zeit meines Lebens „der mächtigste Mann der Welt“, auf den zweiten Platz dieses Rankings zurückgestuft, den ersten besetzt jetzt das von keinem Volk gewählte und legitimierte chinesische Staatsoberhaupt. Fast scheint es, dass nach dem Zusammenbruch der Obama-Hoffnungen in den politischen Eliten der USA endgültig vergessen worden ist, dass demokratische Gesellschaften besonders auf die Bürger angewiesen sind, die ihre Regierungen an den Idealen der Demokratie messen und nicht an den Fähigkeiten der Amtsinhaber zum optimalen Erhalt ihrer Macht.

Alles andere als demokratisches Selbstbewusstsein hat 2010 auch Europa gezeigt. Es war erst im Mai, als die Griechenland-Krise den heiligen Eid des Bailout-Verbots zusammenfallen ließ, das zwecks Akzeptanz des Euros den Euro-Bürgern (vor allem den deutschen) versprochen worden war. Griechenland zu helfen, und leider gab es tatsächlich keine bessere Alternative, wurde zur „ultima ratio“ erklärt. Im Dezember reden wir schon  nicht mehr über Irland und Portugal, sondern über Spanien, eine große Volkswirtschaft. Die Ultima-Ratio-Argumentation ist zum Alltag geworden.

Nur zu Erinnerung: Von „ultima ratio“ zu reden, also über das äußerste, letzte Mittel der Vernunft, wenn zuvor alle anderen sich als untauglich erwiesen haben, war bisher dem Einsatz militärischer Gewalt vorbehalten.

Wenn es zur Selbstverständlichkeit wird, demokratische Nationen wie Irland oder Portugal zur Aufgabe ihrer Haushaltssouveränität aufzufordern, weil sie ja schlechter gewirtschaftet haben als wir, dann heißt das: Helmut Schmidt hat wieder einmal recht. In diesem Jahrhundert geht es um das Überleben der europäischen Zivilisation. Und eben auch deswegen, weil sie gar nicht darum kämpft. Ihre politischen Führer ziehen es vor, die Bürger  ihrer Länder gegeneinander auszuspielen, um den Mangel an politischer Weitsichtigkeit zu überdecken. Vom „Primat der Politik“, das sie nach der Weltfinanzkrise zurückerobern wollten, ist nur noch selten die Rede. Das war 2008. Fast vergessen, ist ja schon über zwei Jahre her.

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