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Alice Schwarzer bei einer Pressekonferenz.

© dpa

Am Pranger: Schwarzer, Schmitz, Hoeneß...: Das öffentliche Urteil wird zu oft zum Fallbeil

Im Zeitalter der digitalen Datenspeicherung werden Fehltritte immer schneller aufgedeckt, Macht wird entzaubert und Autorität trivialisiert. Das zeigt nicht nur der Fall Alice Schwarzer. Das jüngste Gerücht wird zum aktuellsten Gericht.

Streitthemen sind Seismografen, sie dienen einer Gemeinschaft als Selbstvergewisserung. In den vergangenen vier Jahrzehnten kreiste das Gros der Debatten in Deutschland um die vier Großthemen Geschichte, Status, Moral und Transparenz. Manchmal überlappten sie sich, manchmal folgten sie aufeinander. Es begann mit Historikerstreit, Holocaust-Mahnmal, Goldhagen-Kontroverse, Bubis-Walser-Disput (Geschichte). Das mündete in Wiedervereinigung, Berliner Republik, neue Souveränität (Status). Dann kam die Bioethik mit DNA- Entschlüsselung, embryonaler Stammzellforschung, Sterbehilfe, Präimplantationsdiagnostik (Moral).

Heute geht’s um George Orwell, Big Data, Facebook, Twitter, Google, NSA, Wikileaks, Shitstorm, Onlinepetitionen, Piraten, Plagiate, Steuerhinterziehung. Das Grundgefühl heißt: Es gibt keine Geheimnisse mehr, alles kommt heraus (Transparenz). In wenigen Tagen produzieren die Menschen inzwischen mehr Daten als vom Beginn der Zivilisation bis zum Jahr 2003. Diese Daten können auf immer kleineren Trägern gespeichert werden. Die Träger sind hochmobil. Und das Internet kennt keine Grenzen. Ohne Google keine Plagiatsenthüllung. Ohne Edward Snowden keine NSA-Affäre. Ohne Steuer-CDs keine Aufdeckungsswelle. Soziale Netzwerke schließlich schaffen eine oft schroff reagierende Öffentlichkeit, deren Dynamik dem Zugriff von Politik und traditionellen Medien entzogen ist. Potenziell steht jeder nackt da, nichts kann ihn noch schützen.

Aufklärung oder neuer Pranger?

Begriffe wie Diskretion, Privatheit, Persönlichkeitsrecht verlieren an Substanz. Macht wird entzaubert, Autorität trivialisiert. Durch Fehltritte blamiert haben sich Uli Hoeneß, Alice Schwarzer und André Schmitz ebenso wie Karl-Theodor zu Guttenberg, Annette Schavan und Silvana Koch-Mehrin. Jedoch: Werden heute mehr Steuern hinterzogen als früher, wird mehr plagiiert? Wohl kaum. Bloß heute kommt’s raus. Die Monopole der Geheimhaltung sind geknackt, die Grenzen der Intimität eingerissen worden. Was die einen als Entlarvung und Aufklärung feiern, bedauern die anderen als neuen Pranger und Burnout der Seele.

„Ein Zeitalter der Transparenz muss ein Zeitalter des Vergebens sein“, fordert der amerikanische Philosoph David Weinberger. Denn wo Makel, Laster und Sündhaftigkeit fortwährend ins Rampenlicht gezerrt werden, lauert die Gefahr des allgemeinen Zynismus. Der mutmaßliche Spitzenkandidat der Konservativen für die Europawahl, Jean-Claude Juncker, soll ein Alkoholproblem haben, schreibt der „Spiegel“. Das Liebesleben des französischen Präsidenten beschäftigt beileibe nicht nur den Boulevard. Wir erfahren alles über jeden. Das jüngste Gerücht wird zum aktuellsten Gericht. Der ARD-Talk „Hart aber fair“ reagierte jetzt schnell, schmiss sein Programm um und lud seine Gäste unter dem Titel ein: „Was, die auch – kein Recht auf Steuergeheimnis für Alice Schwarzer?“

Kein Anwalt kann das verhindern. Immer rascher entladen sich die Empörungsgewitter. Guttenberg, Hoeneß, Schwarzer, Schmitz: Sie alle haben gefehlt, getäuscht, getrickst oder den Staat betrogen. Doch die Härte des öffentlichen Urteils erklärt sich auch durch die Hoffnung der Urteilenden, die Menschen besser machen, potenzielle Sünder abschrecken zu können. Verdammung statt Verzeihung. Selbst der Kopf Unschuldiger wird gelegentlich unter das Fallbeil gelegt – Christian Wulff etwa oder Markus Lanz. So entpuppt sich die schöne, neue, digitale Welt auch als Herrschaft einer schreienden, amorphen Masse, die per Mausklick den Daumen nach oben oder unten senkt.

Verständlich ist es, sich nach der schönen, alten, analogen Welt zurückzusehnen. Doch die ist untergegangen. Wir werden uns mit Big Data, illegal entwendeten USB-Sticks und Onlinepetitionen arrangieren müssen. Irgendwie. Die Beschwörung von Persönlichkeitsrechten wiederum ersetzt nicht deren Neudefinition im digitalen Raum. Und zum Schluss muss die Gemeinschaft der Ach-so-Fehlbaren lernen, wie Vergeben ohne Vergessen funktioniert. Lernt sie es nicht, verewigt sie ihre eigene Dauererregung.

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