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Diese gigantische Traglufthalle aus Stahl soll über den havarierten Reaktor vier des Atomkraftwerks Tschernobyl geschoben werden, und die dort lagernden rund 1,5 Tonnen strahlenden Staubs etwa 100 Jahre halbwegs sicher einschließen. Fertig ist der Bau frühestens 2017.

© Volodymyr Shuvayev/AFP

29 Jahre nach der Reaktorkatastrophe: Tschernobyl bleibt gefährlich

Mit Müh und Not haben es die G7-Staaten vor wenigen Tagen geschafft, genug Geld zu sammeln, um die neue Tschernobyl-Schutzhülle weiterzubauen. Der alte Sarkophag ist ist so marode, dass er jederzeit einstürzen könnte.

Morsch ist der Betonmantel über dem 1986 explodierten Atomreaktor vier in Tschernobyl schon lange. Aber knapp 30 Jahre nach der Katastrophe steigt das Risiko, dass das Gebäude ganz zusammenbricht, bevor die neue Schutzhülle über dem alten Sarkophag fertig gestellt ist. Die Physikerin Oda Becker hofft jedenfalls, dass der neue Sarkophag rechtzeitig fertig wird, bevor der unmittelbar nach der Katastrophe von den sogenannten Liquidatoren hastig errichtete erste Schutzmantel endgültig einstürzt.

Sie hat für die Umweltorganisation Greenpeace zum Jahrestag vor wenigen Tagen ein Gutachten über den aktuellen Zustand der Anlage erstellt. Von innen strahlt das radioaktive Material und zermürbt den Beton. Nach Beckers Informationen sickert inzwischen kontaminiertes Wasser aus der Reaktorruine ins Grundwasser. Von außen setzen Wind, Regen und andere Umwelteinflüsse dem maroden Gebäude zu. Selbst wenn die neue Schutzhülle die Strahlung von der Reaktorruine abschirmen kann, hält die Konstruktion höchstens 100 Jahre. Darauf ist sie jedenfalls ausgelegt. Es gebe aber weiterhin weder ein Konzept noch einen Finanzierungsplan, wie der Reaktorkern gesichert und die Ruine rückgebaut werden kann. "Ob der explodierte Reaktor unter den gegebenen technischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen jemals in ein ökologisch sicheres System überführt werden kann, ist zweifelhaft", schreibt der Greenpeace-Atomexperte Heinz Smital.

Ein Provisorium für 100 Jahre

Seit 1997 wird eine Traglufthalle aus Stahl geplant, die seit 2012 neben der Reaktorruine errichtet wird. Die Strahlung in unmittelbarer Nähe des Gebäudes ist immer noch so hoch, dass dort niemand arbeiten kann. Deshalb muss die gigantische Halle - 260 Meter breit, 165 Meter lang und 110 Meter hoch - in einem Kraftakt am Ende über die Reaktorruine geschoben werden. Rund 31 000 Tonnen müssen Ende 2017 bewegt werden, falls der Bau bis dahin tatsächlich fertig ist. Eigentlich hätte er in diesem Jahr fertig gestellt werden sollen. Aber dann ging dem bei der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) verwalteten Tschernobyl-Fonds einmal mehr das Geld aus.

Der Fonds ist ein Projekt der sieben größten Industriestaaten G7. Deshalb ist Deutschland, das aktuell die Präsidentschaft hat, dafür verantwortlich, dass zumindest weiter gebaut werden kann. Umweltstaatssekretär Jochen Flasbarth sagte nach einer Geberkonferenz vor wenigen Tagen erleichtert: "Jetzt ist absolut klar, dass die Arbeit in Tschernobyl weiter gehen kann."

75 Millionen Euro fehlen immer noch. Aber zumindest kann die 2,1 Milliarden Euro teure Schutzhülle weiter gebaut werden. Umweltministerin Barbara Hendricks (SPD) sagte nach einer Geberkonferenz vor wenigen Tagen in London: „Ich bin froh und sehr erleichtert über das Ergebnis der Geberkonferenz. Es ist uns als Präsidentschaft der G7 gelungen, zusammen mit unseren Partnern die Fertigstellung der neuen Schutzhülle für die Reaktorruine in Tschernobyl finanziell zu abzusichern.“ Zu dem Zeitpunkt fehlten noch 85 Millionen Euro im Tschernobyl-Fonds, den die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) verwaltet. Am Wochenende kündigte Russland an, weitere zehn Millionen Euro in den Fonds einzuzahlen.

Das Geld reicht immer noch nicht

Die Londoner Geberkonferenz war bereits die fünfte, um die neue Schutzhülle über dem havarierten Reaktor zu finanzieren. Den größten Teil der Kosten trägt die EBRD selbst, sie schießt aktuell 320 Millionen Euro nach, hat zuvor aber schon 300 Millionen Euro in den Fonds eingespeist. Die G-7-Staaten haben bei der Geberkonferenz weitere 180 Millionen Euro aufgebracht. Deutschland hat einschließlich der nun zugesagten 18 Millionen Euro bisher rund 108 Millionen Euro in das Bauwerk investiert. In einem Statusbericht, den die Grünen von der Bundesregierung verlangt hatten, heißt es zum aktuellen Baufortschritt: "Die laufende Krise in der Ukraine zeigte im Projektablauf bisher weniger negative Einflüsse, als zu befürchten war."

Sollte die Schutzhülle noch nicht stehen, wenn der Bau in sich zusammenfällt, könnten bis zu 1,5 Tonnen radioaktiver Staub aus dem geschmolzenen Reaktorkern in einem Umkreis von 50 Kilometern niedergehen, je nach Windlage auch noch weiter. Dass das kein abwegiges Szenario ist, zeigte der 12. Februar 2013, als Wand und Dachstücke des dem Sarkophag benachbarten Maschinenhauses einstürzten. Das Gelände rund um den Reaktor ist seit 29 Jahren Sperrgebiet. Die Kontamination ist unterschiedlich. Es gibt Stellen, an denen nahezu nichts strahlt. An anderen Stellen ist die Strahlung so hoch, dass die Gesundheit von Menschen stark gefährdet wird. Dennoch sind einige Menschen in ihre Häuser im Sperrgebiet zurückgekehrt. Vor allem Ältere, die lieber in ihrer vertrauten Umgebung arm sind als anderswo. Sie leben damit, dass ihre Enkel nie zu Besuch kommen können, weil die Strahlung Kindern noch mehr schadet als Erwachsenen, berichtete eine Bewohnerin vor vier Jahren bei einem Besuch im Sperrgebiet.

Waldbrände bringen neue Risiken

Wie riskant das Leben dort immer noch ist, haben die etwa 150 Bewohner der 30-Kilometer-Sperrzone gerade erst wieder miterlebt. Etwa 20 Kilometer von der havarierten Anlage entfernt brach ein Waldbrand aus, gegen den 300 Feuerwehrleute mit drei Flugzeugen und einem Hubschrauber vier Tage lang ankämpften. Rund 400 Hektar Wald standen in Flammen. Erst am Sonntag meldeten die ukrainischen Behörden, dass der Brand unter Kontrolle sei. Die radioaktive Strahlung habe an der Reaktorruine leicht über der Norm gewesen, berichtete der Zivilschutz der Ukraine. Die Behörden vermuten Brandstiftung als Ursache.

Der Waldbrand hat den Verfall in der 30-Kilometer-Zone um die Atomruine in Tschernobyl noch beschleunigt. In der Sperrzone leben etwa 150 Menschen. Aber viele der Häuser hatten schon vor dem Waldbrand kein Dach mehr.
Der Waldbrand hat den Verfall in der 30-Kilometer-Zone um die Atomruine in Tschernobyl noch beschleunigt. In der Sperrzone leben etwa 150 Menschen. Aber viele der Häuser hatten schon vor dem Waldbrand kein Dach mehr.

© Gleb Garanich/Reuters

Jeder Waldbrand kann die Verteilung der strahlenden Fracht verändern, weil strahlende Partikel aufgewirbelt werden können. Und angesichts des Klimawandels ist mit mehr Waldbränden als in der Vergangenheit zu rechnen. Davor haben gerade erst Forscher des Norwegian Institute for Air Research gewarnt. Ein Feuer kann radioaktive Partikel aufwirbeln und der Wind sie neu verteilen. Bis Kiew, etwa 100 Kilometer südlich von Tschernobyl, sind die Partikel aber nicht gekommen, berichtet das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS), das in der ukrainischen Hauptstadt eine Messsonde betreibt. Dort hätten die Messungen einen "normalen Verlauf" genommen, sagte eine Sprecherin des BfS dem Tagesspiegel.

Die Risiken des Normalbetriebs

Angesichts der bewaffneten Auseinandersetzungen in der Ostukraine haben Atomexperten trotz des vereinbarten Waffenstillstands Sicherheitsbedenken, was die noch Strom erzeugenden Atomkraftwerke in der Ukraine angeht. Auf eine Kleine Anfrage der grünen Atomexpertin Sylvia Kotting-Uhl schrieb Umweltstaatssekretär Florian Pronold (SPD) Anfang April, dass nach Kenntnis der Bundesregierung in den "fünfzehn ukrainischen Kernkraftwerksblöcken" zwischen 2012 und 2017 "ein Modernisierungsprogramm umgesetzt" werde, "um das Sicherheitsniveau zu erhöhen". Das kostet die wirtschaftlich schwer angeschlagene Ukraine "nach vorliegenden
Informationen" etwa 1,4 Milliarden Euro. Die EBRD und Euratom wurden haben nach Angaben Pronolds dafür "Kredite von jeweils bis zu 300 Millionen Euro zugesagt". Weitere internationale Mittel seien für die Sicherheitsinvestitionen in die ukrainischen Atommeiler aber nach Kenntnis der Bundesregierung nicht vorgesehen.

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