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Yvonne ist auf der Flucht: Die Kuh in uns

Warum die Jagd nach dem entlaufenen bayerischen Rindvieh Yvonne tagelang ein ganzes Land beschäftigt.

Eine Kuh ist abgehauen. In Bayern. Dass die Medien nun jeden Tag darüber berichten, wie das Tier es schafft, sich der Polizei und den Häschern zu entziehen, kann in diesem Jahr wahrscheinlich nicht alleine dem gefürchteten Sommerloch zugeschrieben werden. Die Börse stürzt ab und in London brennen die Straßen, langweilig ist die Welt in diesem Sommer sicher nicht. Es muss also etwas dran sein an der Kuh, etwas das berührt.

Zunächst die Fakten: Inzwischen ist die Kuh zum Abschuss freigegeben, ein Unfall mit ihr könnte für Autofahrer schlimme Folgen haben, heißt es. Doch der Versuch, die Kuh namens Yvonne zur Problemkuh zu machen und sie damit auf eine Stufe mit dem Problembären Bruno zu stellen, der als Raubtier neben Sympathie auch Angst bei den Menschen weckte, schlägt fehlt. Der Kuh fliegen weiter die Herzen zu. Es gibt inzwischen die unvermeidliche Facebook-Fangruppe und Tierschützer, die sich für sie starkmachen. Einfach so wird die Kuh wohl kaum noch erschossen werden. Und die Antwort auf die Frage nach dem Phänomen Yvonne muss wohl sein: Wir finden uns in ihr wieder. In einer Kuh.

Je mehr die Menschen über Yvonne wissen, desto menschlicher wird sie. Das beginnt damit, dass man ihren Namen kennt, wir lesen auch, dass sie ein Kind hat (das Kalb „Waldi“) und eine beste Freundin („Waltraut“). Die Rettungsversuche der Tierschützer – Yvonne mithilfe von Waltraut und Waldi aus dem Wald zu locken – könnten auch einen Menschen zum Aufgeben bewegen. Schließlich hat die Kuh ihre „beste Freundin“ schon einmal auf der Weide besucht, erfahren wir, und ihr Kind kann sie nun auch nicht völlig kaltlassen. Dazu heißt es, die Kuh sei außerordentlich intelligent. War sie womöglich wirklich in der Lage, ihre Flucht zu planen?

Es ist oft das scheinbar Menschliche im Tier, das den Menschen so sehr anspricht. Es gibt unzählige Fotostudien darüber, wie sich Herrchen und Hündchen ähneln. Und es sind die menschelnden Geschichten, die es in die Zeitung schaffen: Knut, das Eisbärbaby, das von seinem Pfleger wie von einer Mama mit der Flasche aufgepäppelt wird. Der Trauerschwan Petra, der sich 2006 unsterblich in ein weißes Plastikboot in Schwanengestalt verliebte und auch im Sommer darauf zu ihm zurückkehrte. Ausgebrochene Zootiere, die dem Leben hinter Gittern entfliehen. Hunde, die ihrem umgezogenen Herrchen über die Alpen folgen, verbunden in unerschütterlicher Treue. Nicht selten vertreten Hundebesitzer sogar die These, des Menschen bester Freund, der Hund, sei treuer und verstehe sie besser als jedes menschliche Wesen.

Doch die Solidarität und Verbundenheit, die uns jeden Tag erneut mit Yvonne bangen lassen, gehen noch tiefer: Yvonnes Flucht spricht den Freiheitsgeist in uns allen an. Es ist die Freude über ein Tier, das zur ewigen Knechtschaft verurteilt schien – jahrelang hat sie im Stall Milch gegeben, Kälber geboren – jetzt soll sie geschlachtet werden, doch jetzt hat sie genug. Die Kuh hat es gewagt, in die Freiheit auszubrechen, das wilde Leben im Wald der Sicherheit einer umzäunten Wiese vorzuziehen. Würden wir uns doch auch einmal trauen, den Büroalltag hinter uns zu lassen und in die Wildnis zu ziehen ...

Soweit die menschliche Deutung. Dass das Tier vermutlich nichts von seinem Ende als Rindersteak ahnt und dass es nicht aus dem Stall sondern lediglich von einer Waldweide ausgebüxt ist, bei der ein Ausflug in den Wald nun nicht so fern liegt, ist egal.

Die Yvonne-Schützer greifen derweil zu ihrem letzten großen Trumpf: Ernst. Ernst ist ein „stattlicher Stier“, wird berichtet, dem Yvonne wohl kaum widerstehen könne. Wenn nicht die Kindesliebe und die Freundschaft Yvonne aus dem tiefen Wald locken, dann vielleicht die Urkraft der Triebe.

Doch die Romantiker unter den Yvonne-Fans seien hiermit gewarnt: Auch Bruno hat sich damals nicht mit Nora, der Bärin, locken lassen. Das Tier bleibt eben Tier und die Kuh eine Kuh.

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