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Srebrenica: Zehntausende gedenken Massaker

Jedes Jahr am 11. Juli kommen die Hinterbliebenen nach Srebrenica, um zu beerdigen, was von ihren Angehörigen übrig geblieben ist. Auch an diesem Montag kamen wieder mehrere zehntausend Menschen.

Vor genau einem Jahr steht Murka Jahic vor dem grünen Grabmal mit der Nummer 318 und starrt in ein Loch in der Erde. Ihr Sohn Samir ist eben weggegangen, um den grünen Sarg mit der Nummer 318 zu holen. Heute beerdigt Murka Jahic ihren Mann Rifet. Heute, 15 Jahre nach seiner Ermordung. Die Sonne brennt auf den Friedhof in Potocari, einen Ort bei Srebrenica. Als Samir mit seinen Cousins den Sarg bringt, sieht Murka Jahic kurz hin. Dann starrt sie in die Ferne, blass und verschwitzt. Das Kopftuch, das die 43-Jährige zur Beerdigung trägt, hängt aufgeknotet an ihrem Kopf herunter, die schwarzen Haare auf der Stirn sind nass.

Samir steigt in das hüfttiefe Grab und stützt den Sarg, als der hinab gelassen wird. Murka Jahic steht regungslos daneben. Erst als die Schwester ihres Mannes laut in Tränen ausbricht, rührt Murka Jahic sich wieder und nimmt sie in den Arm. „Es bringt doch nichts“, flüstert sie, "es bringt alles nichts."

Samir schaufelt jetzt Erde ins Grab. Mechanisch und schnell. Er beeilt sich, er muss auch noch seinen Großvater begraben. Fünfzig Meter weiter weint Agisa Mustafic, die Schwester von Murka Jahic, am offenen Grab. Auch ihr Mann wurde ermordet. Als Angehörige die 775 grünen Särge auf den Friedhof tragen, brechen viele Frauen zusammen.

Die meisten von ihnen waren dabei, als serbische Truppen unter der Führung des nun verhafteten Generals Ratko Mladic am 11. Juli 1995, während des Bosnienkrieges, in die UN-Schutzzone Srebrenica einfielen und 8372 Muslime ermordeten, vor allem Jungen und Männer. Zwei Jahre zuvor hatten die UN Srebrenica und das umliegende Gebiet im serbischen Teil Bosniens zur Schutzzone für muslimische Bosnier erklärt. Als die Serben die entwaffnete Zone 1995 angriffen, vertraute die Bevölkerung darauf, dass die niederländischen Blauhelmsoldaten sie verteidigen würden – vergebens.

Die Niederländer sahen dem Morden tatenlos zu. Ihre Mitschuld an dem Massaker blieb lange ungesühnt. Bis heute haben sich weder die Niederlande noch die UN bei den Opfern entschuldigt – und mussten sich bisher vor Gericht noch nie für ihre Tatenlosigkeit verantworten. Die UN konnten sich auf ihre Immunität berufen, die niederländischen Blauhelmsoldaten versteckten sich hinter dem UN-Mandat.

Das hat sich nun geändert: Überraschend hat am vergangenen Dienstag ein Berufungsgericht in Den Haag entschieden, dass der niederländische Staat für den Tod dreier Männer verantwortlich ist. Die Blauhelme hatten auch den Bruder und den Vater ihres Dolmetschers Hasan Nuhanovic gezwungen, ihr Camp zu verlassen, ebenso wie Rizo Mustafic, der als Elektriker für Dutchbat gearbeitet hatte – alle drei wurden ermordet.

Der niederländische Staat hätte trotz UN-Mandat die effektive Kontrolle über die Soldaten gehabt, und die wiederum hätten um die Gefahr für die Männer gewusst, argumentierte das Gericht und sprach den Familien Schadensersatz zu: „Dutchbat war Zeuge mehrerer Vorfälle, bei denen bosnische Serben außerhalb des Lagers Flüchtlinge misshandelten oder töteten.“

Lesen Sie mehr im zweiten Teil.

In den Tagen des serbischen Angriffs auf Srebrenica sucht auch Agisa Mustafic Schutz bei niederländischen Blauhelmen, der sogenannten Dutchbat-Truppe. Sie glaubt, auf dem UN-Camp in Potocari sicher zu sein – schließlich haben die UN-Soldaten Frauen, Kinder und Alte aufgefordert, von Srebrenica dorthin zu gehen. Abgemagert und erschöpft hat Agisa Mustafic sich und ihr Baby die fünf Kilometer bis zum Lager geschleppt. Mit ihrem elf Monate alten Sohn auf dem Arm bittet die 20-Jährige einen Blauhelmsoldaten, sie in das UN-Camp zu lassen. Doch der Soldat schreit sie an, sie solle verschwinden. Agisa Mustafic bleibt stehen. Da richtet der Mann seine Waffe auf sie und sagt: „Verschwinde, oder ich schieße!“

Agisa Mustafic zittert, wenn sie sich die Situation in Erinnerung ruft. „Wir verstanden nicht, warum die uns nicht helfen wollten.“ Später hörte sie, die niederländischen Soldaten hätten Angst gehabt, dass die Serben auch auf sie schießen würden, wenn Bosnier bei ihnen wären. „Ich hasse die Holländer“, sagt sie.

Die Sicherheit des niederländischen Bataillons und politische Interessen standen während der UN-Mission im Vordergrund – nicht der Schutz der Bevölkerung. Dies geht aus den Berichten der UN und der niederländischen Regierung hervor. Mit der Dutchbat-Truppe hatte der niederländische Staat ein schlecht ausgebildetes und nur leicht bewaffnetes Bataillon in den Einsatz geschickt. Das Kontingent von 450 Blauhelmen und deren Ausrüstung wurde nicht verstärkt, obwohl der UN-Sicherheitsrat rechtzeitig von einer geplanten Offensive der Serben wusste.

Als die Serben angriffen, trafen sie auf wenig Widerstand und nahmen die Schutzzone am 11. Juli ein. Die Dutchbat-Soldaten gaben ihre Posten kampflos auf. Mehr noch: Dem UN-Bericht zufolge schossen sie sogar absichtlich an den Serben vorbei. Um sich zu schützen gingen einige freiwillig mit ihnen – und wurden später zu Geiseln. Auch deshalb blockierten die niederländischen Generäle, aber auch der französische General Bernard Janvier mehrmals eine von Dutchbat angeforderte Luftwaffenunterstützung – diese hätte die veralteten Panzer der Serben ausschalten und die Angreifer zurückdrängen sollen.

Nachdem die Serben Srebrenica eingenommen hatten, erhielten viele hilflose Bosniaken wie Agisa Mustafic von Blauhelmsoldaten die Anweisung, zur UN-Basis nach Potocari zu flüchten. Doch Dutchbat ließ nur wenige in die provisorisch abgesperrte Sicherheitszone. Wie Agisa Mustafic drängten sich Zehntausende Flüchtlinge vor der Absperrung. Als die Serben das Camp erreichten, verteidigte Dutchbat die Bosniaken wieder nicht. Die serbischen Soldaten vergewaltigten und ermordeten Hunderte Mädchen und Frauen, exekutierten in den folgenden Tagen systematisch Tausende Jungen und Männer, meist im „wehrfähigen“ Alter von 12 bis 77 Jahren, teilweise vor den Augen der niederländischen UN-Soldaten. Als die Serben die Frauen und Kinder in Bussen aus der Stadt abtransportieren, ist der Ehemann von Agisa Mustafic mit vielen anderen bereits auf der Flucht. UN-Soldaten haben den Männern geraten, durch den verminten und von Serben kontrollierten Wald zu fliehen. Bevor Agisa Mustafic mit ihrem Baby in den Bus einsteigt, bittet sie ein Nachbar, den UN-Soldaten zu sagen, dass er ihr Ehemann sei.

Die Blauhelme, die den Transport überwachen, lassen sie als Familie in den Bus. Keine 15 Minuten später wird die Kolonne angehalten. Die Serben zerren die wenigen Männer aus den Bussen und erschießen sie. „Meinen Mann sollte ich in Tuzla treffen“, sagt Agisa Mustafic. „Ich habe ihn nie wieder gesehen.“ Von den 10 000 bis 15 000 Bosniaken, die durch den Wald fliehen wollen, kommt nur etwa ein Drittel auf muslimisch-bosnischem Gebiet an.

Lesen Sie mehr im dritten Teil.

Vier Jahre nach dem Massaker legte UN-Generalsekretär Kofi Annan einen Bericht zu der gescheiterten UN-Mission vor, die er als größte Schande in der Geschichte der UN bezeichnete. Die niederländische Regierung wies aber Anschuldigungen, versagt zu haben, zurück. Doch 2002 musste sie nach Erscheinen eines Untersuchungsberichts wegen der Vorwürfe zurücktreten. Vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag wurden bisher nur wenige serbische Täter verurteilt.

Der befehlshabende Armeechef Ratko Mladic war 16 Jahre lang flüchtig, erst Ende Mai wurde er in Serbien verhaftet und muss sich nun einem Prozess stellen – wegen Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, darunter das Massaker in Srebrenica. Reue hat der inzwischen 69-Jährige bisher nicht gezeigt: Beim zweiten Prozesstag am vergangenen Montag weigerte er sich seine Kappe abzunehmen, unterbrach die Richter immer wieder, verhöhnte die Opfer mit abfälligen Blicken und riss sich die Kopfhörer ab, als die Anklageschrift verlesen wurde. Der Richter verwies Mladic des Saals. Solch arrogante Selbstinszenierung hat der Militärchef schon 1995 beherrscht: Einen Tag, nachdem er in Srebrenica eingefallen war und sich die Niederländer ergeben hatten, prostete er vor laufenden Kameras dem Dutchbat-Befehlshaber Thom Karremans zu – Mladics Soldaten bereiteten währenddessen den Massenmord vor. Ein Bild, das zum Symbol für die Feigheit der Niederländer geworden ist.

Für die juristische Aufarbeitung der gescheiterten UN-Mission ist das neue Urteil, das den Niederländern die Schuld an der Ermorderung dreier Opfer gibt, nun eine Zäsur: Zwar handelt es sich um Sonderfälle, da Nuhanovic und Mustavic für die Niederländer gearbeitet haben, dennoch könnte das Urteil auch Hunderte von anderen Jugendlichen und Männern betreffen, die beim Compound der Blauhelme Schutz suchten und den Serben ausgeliefert worden sind. „Viel wichtiger sind aber die politischen Dimensionen dieses Urteils“, sagt der niederländische Anwalt Axel Hagedorn. „Jetzt ist erstmalig ein Gericht zu der Einschätzung gekommen, dass Fehler gemacht wurden und dass diese Fehler dem niederländischen Staat zuzurechnen sind.“

Hagedorn steht hinter der Sammelklage des Hinterbliebenenverbandes „Mütter von Srebrenica“ gegen die UN, die seit 2007 läuft und im März 2010 erneut zurückgewiesen wurde. Ein Berufungsgericht in Den Haag bestätigte die Immunität der UN, die diese in ihrer Charta festgelegt haben. Vor den nationalen Gerichten der Mitgliedstaaten können die UN nicht verklagt werden – damit sie einen größeren Spielraum für die Durchführung von internationalen Missionen haben.

„Die UN werden jeglicher gerichtlichen Kontrolle entzogen und verfügen damit über unbegrenzte Macht“, sagt der Anwalt der rund 6000 Klägerinnen. „Wenn dies so bleibt, werden die Menschenrechte dieser absoluten Macht geopfert.“ Hagedorn kämpft derzeit vor dem höchsten Gericht in den Niederlanden um die Aufhebung der Immunität. Eine Entscheidung erwartet der Anwalt bis Ende 2011. Bei einer Ablehnung will er vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen.

Lesen Sie mehr im vierten Teil.

Agisa Mustafic und Murka Jahic gehören nicht zu den Klägerinnen. Der Alltag ist für sie schon schwer genug, die Erinnerungen sind noch immer frisch. 1995 wurden sie in Bussen nach Tuzla gebracht, 80 Kilometer von Potocari entfernt. Tuzla war längst überfüllt, das wenige Essen für die Flüchtlinge kam von Hilfsorganisationen.

Vier Jahre lebten die Schwestern mit ihren beiden Söhnen zusammen in einem Zimmer und warteten auf ihre Männer. Agisa Mustafic sagt heute: „Mir war nach einem Jahr klar, dass mein Mann nicht mehr kommen wird.“ Sie bekam schwere Depressionen und musste in psychiatrische Behandlung. Im Gegensatz zu ihrer älteren Schwester, die das Massaker niemals wieder erwähnt hat, redet Agisa Mustafic darüber – auch wenn ihr Sohn es nicht hören will. „Ich esse mehr Tabletten als Nahrung am Tag“, sagt sie, „deshalb hat er immer Angst um mich.“

2003 beschließen die Schwestern, zusammen nach Amerika auszuwandern. Murka Jahic glaubt damals noch fest daran, dass ihr Mann lebt, doch die beiden wollen ihren Kindern eine bessere Zukunft ermöglichen. Murka Jahic bekommt ein Visum, Agisa Mustafic nicht. Mit ihrem Sohn zieht Murka Jahic nach Phoenix. In Potocari trauern die Angehörigen, von denen die meisten nach dem Massaker ins Exil gegangen sind, am Gedenktag gemeinsam – eine Art stiller Protest.

Am selben Tag find et in Berlin eine ganz andere Form des Protests statt: Turnschuhe, Lederschuhe und bunte Kinderschuhe türmen sich am 11. Juli 2010 am Brandenburger Tor zu einem Berg auf. 16 744 Stück – ein Paar Schuhe für jedes der 8372 Opfer von Srebrenica. Außer verwitterten Knochen sind Schuhe oft das Einzige, was in den Massengräbern überdauert. Viele Angehörige haben die Opfer durch die Schuhe identifiziert. Eine Frau hat für das Mahnmal die Schuhe ihres Sohnes abgegeben, die sie immer bei sich trug. Er zog sie in Srebrenica aus, weil es so heiß war. Dann wurde er ermordet. Aus den Schuhen will die Berliner Künstlerinitiative „Zentrum für Politische Schönheit“ ein Mahnmal gestalten, dass in Potocari aufgestellt werden soll. Sie wollen die Schuhe einbetonieren und zu einer 16 Meter breiten und 8 Meter hohen „Säule der Schande“ aus den Buchstaben „U“ und „N“ formen – um eine Diskussion über die Verantwortung der UN anzustoßen.

Murka Jahic ist es wichtig, dass die Blauhelmsoldaten zur Rechenschaft gezogen werden. „Dann müssten sie erklären, wieso sie uns nicht geholfen haben“, sagt sie. „Das verstehe ich bis heute nicht.“ Doch noch wichtiger ist ihr, dass alle serbischen Täter endlich verurteilt werden – die Verhaftung von Mladic bedeutet ihr viel. Murka Jahic empfindet es als Beleidigung, dass der serbische Präsident bisher am Gedenktag erschien – ohne Mladic auszuliefern: „Es war, als würden sie uns auslachen, wenn sie hier erscheinen“, sagt sie.

Seit ihrer Auswanderung ist Murka Jahic nur drei Mal nach Bosnien zurückgekehrt. Beim ersten Mal besuchte sie ihre Schwester, 2006 beerdigte sie ihren Bruder und Vater. Heute vor einem Jahr ist sie mit ihren beiden Nichten gekommen, weil ihr Mann identifiziert wurde. Sie hat ihr abgebranntes Haus in Srebrenica wieder aufgebaut. „Auch wenn ich nie wieder hierherkommen werde, soll in Bosnien etwas sein, das von mir und meinem Mann ist“, sagt Murka Jahic. „In Arizona ist mein Sohn Samir immer bei mir“, fügt sie hinzu und lächelt. Zum ersten Mal an diesem Tag.

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