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Vorbild Natur: Spinnenseide aus dem Labor

Härter als Stahl und elastischer als Gummi: Künstliche Spinnenseide könnte in der Medizin und beim Autobau eingesetzt werden. Bisher konnten Wissenschafter aber nur wenige Zentimeter herstellen.

Spinnenseide ist ein faszinierender Naturstoff. Bezogen auf ihr Gewicht sind die hauchdünnen Fasern fester als Stahl und zugleich dehnbarer als Gummi. Weil sich Spinnfäden auf das Zehnfache ihrer Länge dehnen können, ohne zu reißen, nehmen sie die Energie eines Insektes im vollen Flug auf und bremsen es vollständig ab. Anders als etwa beim Tennisschläger, der den Ball in die Gegenrichtung katapultiert, geben Spinnenfäden die Energie nicht an die Beute zurück, sodass die Insekten nicht wieder davongeschleudert werden. Die Seide nimmt nur langsam ihre Ursprungsform wieder an.

Solch extreme Eigenschaften kann bisher kein menschgemachtes Material vorweisen. Ideen, was man mit so einem Werkstoff anfangen könnte, gibt es jedoch viele. Er könnte beispielsweise der Karosserie von Autos dienen: Sie würde die Energie eines Aufpralls absorbieren und sich anschließend langsam in ihre ursprüngliche Form zurückverwandeln. Unter Experten gilt diese Idee jedoch als ziemlich unrealistisch.

Die Visionen der Materialwissenschaftler sind etwas anders als die Vorstellung der sich selbst ausbeulenden Knautschzone – aber nicht minder spannend. In einem unlängst erschienenen Artikel im Wissenschaftsjournal „Science“ sagen Fiorenzo Omenetto und David Kaplan von der Tufts-Universität in Medford (Massachusetts) künstlich hergestellter Seide eine große Zukunft voraus, vor allem in der Medizin.

So könnte Spinnenseide nach dem Riss einer Sehne die entstandene Lücke überbrücken. Die extremen Kräfte, die eine Sehne aushalten muss, wären für stahlfeste Seidenfäden kein Problem. Zudem würde sie der menschliche Körper nicht abstoßen, weil sie aus Eiweißmolekülen, also dem Körper bekanntem Material, besteht. Das Naturmaterial erscheint daher wie prädestiniert für den Einsatz in der Medizin, schreiben die Forscher.

Doch die Spinnen spielen nicht mit. Sie sind Kannibalen und müssten in hypothetischen Spinnenseidenfarmen voneinander getrennt gehalten werden, was viel zu aufwendig ist. Die Seidenraupenzucht ist keine Alternative, denn die von den Raupen hergestellte Seide hält viel weniger aus. Sie dient nicht dem Beutefang, sondern als Baumaterial für Kokons.

Also versuchen Wissenschaftler seit 30 Jahren Spinnenseide künstlich herzustellen. „In den vergangenen fünf Jahren haben wir dabei enorme Fortschritte gemacht“, sagt Thomas Scheibel, Inhaber des Lehrstuhls für Biomaterialien der Universität Bayreuth. Die Bayreuther Wissenschaftler haben es bereits geschafft, künstliche Spinnenseide herzustellen. Auch andernorts ist das gelungen, etwa an der Universität von Wyoming.

Die Arbeitsgruppe um Scheibel hat dazu das Spinnengen, in welchem der Bauplan für den Spinnenfaden gespeichert ist, in Darmbakterien eingepflanzt. Diese anspruchslosen Mikroben lassen sich einfach züchten und könnten daher die Proteine in großen Mengen erzeugen. Mit Hilfe des Spinnengens stellen die Bakterien Seidenproteine her, die Bausteine der Spinnenseide. Anschließend isolieren die Wissenschaftler die Proteine. Aus der Proteinlösung lässt sich dann relativ leicht der Spinnfaden ziehen.

„Auf diese Weise können wir aber nur wenige Zentimeter Spinnenfaden erzeugen“, sagt Scheibel. Ein industrielles Verfahren hingegen müsste in der Lage sein, kilometerlange Spinnenfäden herzustellen. Denn mit einem hauchdünnen Einzelfaden lässt sich in der Praxis nichts anfangen. Der Kilometerfaden hingegen könnte zu einem Zwirn aus mehreren Fäden und zu Gewebe verarbeitet werden.

Doch um Spinnenseide in Kilometerlänge zu produzieren, die eine ebenso gute Qualität hat wie natürliche Spinnenseide, müssen die Forscher besser verstehen, wie Spinnen ihren Faden herstellen. In ihrem Körper lagern die Achtbeiner Seidenproteine in einer Wasserlösung. Wenn sie sich einen Faden aus dem Hinterleib ziehen, wird die Lösung durch einen dort befindlichen engen Kanal geschleust. Gleichzeitig gibt die Spinne Salze in die Lösung. „Wir nehmen an, dass das Protein im Kanal durch die Salzzugabe ausfällt. Während es ausfällt, wird es in die Länge gezogen, sodass ein fester Faden entsteht“, sagt Andreas Bausch von der TU München. In seinem Labor hat der Physiker ein System aus haardünnen Kanälen gefertigt, das den Spinnapparat der Spinne nachahmt. Ob die Erklärung für das Entstehen des Seidenfadens zutrifft, ist nicht bewiesen. Bislang verstehen die Spinnenforscher noch nicht einmal, wie die Tiere verhindern, dass die Proteine in der Wasserlösung schon vor dem Ziehen des Fadens verklumpen. Eine industrielle Fertigung ist daher noch weit entfernt.

Andere Anwendungen jedoch sind schon heute möglich, glaubt man etwa bei der Firma Amsilk, einer Ausgründung der TU München. Nützliche Produkte aus Spinnenseide, so die Idee, müssen nicht unbedingt Fadenform haben. Die Münchener wollen die Bioverträglichkeit der Seidenproteine nutzen. „Wir stellen beispielsweise Beschichtungen für Implantate aus Seidenproteinen her“, sagt Lin Römer, Forschungsleiter bei Amsilk. Erste Studien hätten gezeigt, dass mit Seidenproteinen beschichtete Implantate verträglicher seien als herkömmliche Kunststoff- oder Metallimplantate. Noch fehle allerdings die Zulassung für die Beschichtung.

Weitere Zukunftsvisionen der Science-Autoren Omenetto und Kaplan setzen ebenfalls auf die Verträglichkeit von Seidenproteinen im Körper. Die Wissenschaftler schlagen vor, Schwämme aus Seidenmaterial als Knochenersatz einzusetzen. Kapseln aus Spinnenseide könnten Medikamente an ihren Wirkort bringen und dort freisetzten. In Tierversuchen seien solche Kapseln bereits erfolgreich getestet worden, berichtet Kaplan.

Eine weitere Vision der Seidenforscher ist es, flexible Blättchen aus Seidenproteinen als Träger für Elektroden zu nutzen. Sie könnten direkt auf das Hirngewebe gelegt werden und sich dessen Form anpassen. „So wäre möglich, Hirnströme mit hoher Empfindlichkeit und hoher Auflösung aufzuzeichnen“, hofft Kaplan. Obwohl es erste Tierexperimente gegeben habe, sei man davon noch weit entfernt.

Die erste Anwendung von künstlicher Spinnenseide, die bald in den Alltag einziehen könnte, ist verglichen damit simpel. Die Firma Amsilk stellt winzige Partikel aus Seidenproteinen her, die in Kosmetika Seidenglanz erzeugen und als Feuchtigkeitsspender dienen sollen. „Die Seidenkügelchen speichern Wasser wie winzige Schwämme und geben es langsam wieder ab“, erläutert Römer.

Den Stahl übertreffende Festigkeit und die enorme Dehnbarkeit der natürlichen Spinnenseide spielen bei diesem Produkt keine Rolle.

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