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Rettung aus der Luft: Kinder winken im Juli 1948 am Flughafen Tempelhof einem „Rosinenbomber“ zu. Mit der Luftbrücke versorgten die Westalliierten während der Berlin-Blockade die Bevölkerung mit Lebens- mitteln und lebenswichtigen Hilfsmitteln wie Brennmaterial.

© akg-images

70 Jahre Freie Universität Berlin: Zwischen Notbehelf und Avantgarde

1948 wurde die Freie Universität gegründet - ein Bekenntnis zu akademischer Freiheit und zu Demokratie.

Plötzlich herrschte reger Betrieb im beschaulichen Dahlem. Tausende junger Menschen aus allen Teilen der besetzten und kriegszerstörten Stadt zog es 1948 zu einem unauffälligen Gebäude in der Boltzmannstraße. Seit dem 10. September konnten sie hier einen Fragebogen abholen, den auszufüllen eine Voraussetzung für das Studium an einer Universität war, die noch gar nicht existierte.

Das knappe Formular mit Fragen zu Biografie und Bildung, auch zu einer möglichen Beteiligung am nationalsozialistischen Regime, erhielten sie nicht von Professoren, Verwaltungsbeamten oder Besatzungssoldaten. Sie erhielten es von Studenten der alten, Unter den Linden gelegenen Universität wie Karol Kubicki, dem späteren Erstimmatrikulierten der Freien Universität, und Helmut Coper. Offenbar verstanden nicht alle, worum es ging: „Wenn zum Beispiel ein Bewerber noch den Nachweis seiner arischen Abstammung miteinreicht“, mokierte sich Coper in der in Berlin erscheinenden studentischen Zeitschrift „Colloquium“, „so zeugt dies nicht gerade von einer übergroßen Intelligenz.“ Aber das nahm ihm und seinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern nicht die Begeisterung für ihr ehrgeiziges Projekt. „Das ist der Tenor der Aufbauarbeit an der Freien Universität. Improvisation, Aktivität, grenzenloser Aktivismus und so wenig Bürokratie wie möglich.“ Noch ist nichts fertig, aber „es geht in Kürze los“.

Tatsächlich begann nur zwei Monate später, Mitte November 1948, der Vorlesungsbetrieb mit gut 2000 Studierenden an drei Fakultäten, unter räumlich beengten und in jeder Hinsicht dürftigen Bedingungen. Warum mutete man sich eine Not-Universität am Stadtrand zu, wo doch die traditionsreiche und ehrwürdige Universität Unter den Linden, die nun nicht mehr Friedrich-Wilhelms-Universität hieß, der weithin, ja weltweit strahlende Leuchtturm akademischen Lebens in Berlin war? Doch eben dieses akademische Leben geriet dort immer mehr in Gefahr, nicht durch manche äußeren Einschränkungen der Nachkriegsjahre, sondern wegen zunehmender politischer Einschnürung und Maßregelung: Die in der humboldtschen Bildungsreform gegründete Universität lag in der alten monarchischen Mitte der preußischen und Reichshauptstadt – und damit seit dem Sommer 1945 im sowjetisch besetzten Sektor. Anstatt sich an die Absprache einer gemeinsamen Zuständigkeit aller vier Alliierten zu halten, zog die sowjetische Besatzungsmacht die Berliner Universität in ihre eigene Zuständigkeit und gab zugleich ihren deutschen Verbündeten, den moskau- und stalintreuen Kommunisten, freie Hand bei der Umgestaltung zu einer Ideologieschmiede auf marxistisch-leninistischer Grundlage.

In der Öffentlichkeit – auch im Tagesspiegel – wird der Ruf nach einer neuen Universität im Westen der Stadt laut

Während sich viele aus der Professorenschaft anpassten und einstweilen stillhielten, wuchs der Unmut unter den Studierenden. Als der sowjetische Geheimdienst im März 1947 eine Studentin und zwei Studenten verhaftete und in Geheimprozessen wegen angeblicher Spionage zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilte, nahm die Unsicherheit zu. Hier und da wurde in der Öffentlichkeit – auch im Tagesspiegel – der Ruf nach einer neuen Universität im Westen der Stadt laut. Im April 1948 lief das Fass über, als drei Studenten, die als Blattmacher des „Colloquium“ kein Blatt vor den Mund nahmen, die Studiererlaubnis entzogen wurde.

Vor dem Hotel Esplanade am Trümmerfeld des Potsdamer Platzes protestierten 2000 Studierende. Die westlichen Alliierten zögerten, vor allem die Briten und Franzosen, die sich mit den Sowjets nicht überwerfen wollten. Aber Öffentlichkeit und Politik nahmen den Impuls auf. Am 19. Juni traf sich ein vorbereitender Ausschuss in Berlin- Wannsee und begann mit den konkreten Planungen für eine freie Universität. Ernst Reuter spielte eine wichtige Rolle: Der charismatische SPD-Kommunalpolitiker war als Oberbürgermeister gewählt, konnte aber wegen des sowjetischen Vetos sein Amt nicht antreten. Ihn vertrat im Ausschuss Edwin Redslob, Kunsthistoriker und von den Nazis abgesetzter Reichskunstwart in der Weimarer Republik; nun Mitherausgeber des Tagesspiegels.

Für Reuter und Redslob, erst recht für Studenten wie Otto Hess oder Helmut Coper, war die Neugründung einer Universität mehr als ein Notbehelf. Gegenwart und Geschichte verknüpften sich in einem Plan für die Zukunft. „Gerade weil wir den Universitäten eine wesentliche Mitschuld an der Durchsetzung des Nazitums geben“, so führte Redslob am 19. Juni 1948 aus, „interessiert uns die Frage, inwieweit der ganze Universitätsbetrieb geordnet und modernisiert werden kann.“ Nicht wenigen Kommunisten – und erst recht früheren Sozialdemokraten, die sich im April 1946 dem Druck zur Vereinigung in der SED gebeugt hatten – war es mit der „antifaschistisch-demokratischen Umwälzung“ ernst.

Aus der Not geboren, improvisiert, ungewiss in ihrer Finanzierung

Aber sie erkannten nicht oder nahmen in Kauf, dass sie sich nicht nur in die neue Unfreiheit eines erstarrten Denkgebäudes begaben, sondern auch in die der rücksichtslosen stalinistischen Herrschaftspraxis. Solch falsche Eindeutigkeit stieß nicht zuletzt die jungen Leute ab. Von einer „natürlichen Skepsis der neuen Studentenschaft“ sprach der angehende Zahnmediziner Horst Rögner-Francke als studentischer Vertreter bei der Gründungsfeier der Freien Universität am 4. Dezember 1948. Der Soziologe Helmut Schelsky prägte einige Jahre später den Begriff der „skeptischen Generation“.

So war die Freie Universität bereits in ihrer Gründung vieles zugleich. Unverkennbar eine Not-Universität: aus der Not geboren, improvisiert, ungewiss in ihrer Finanzierung. Noch im Sommer, fünf Tage nach der konstituierenden Sitzung des Ausschusses, begann am 24. Juni 1948 die sowjetische Blockade West-Berlins, auf die die Westalliierten unter Führung der Vereinigten Staaten mit der Luftbrücke reagierten. Strom, Heizung, Lebensmittel, aber auch die Mobilität, von der eine Universität lebt, wurden prekärer, als sie es ohnehin schon waren.

Hilfsbereitschaft beim Aufbau: Die ersten Studierenden der Freien Universität Berlin richten sich mit gespendeten Möbeln ein. Das Foto entstand im Herbst 1948 vor dem Gebäude in der Boltzmannstraße 3.
Hilfsbereitschaft beim Aufbau: Die ersten Studierenden der Freien Universität Berlin richten sich mit gespendeten Möbeln ein. Das Foto entstand im Herbst 1948 vor dem Gebäude in der Boltzmannstraße 3.

© von der Becke/ullstein bild

Die Teilung Deutschlands und Berlins zeichnete sich deutlicher ab, doch ihre Dauerhaftigkeit lag außerhalb der Vorstellungskraft. Aber die wichtigste Ursache der Teilung, die stalinistische Transformation der sowjetischen Zone, ließ die Neugründung zugleich zu einem emphatischen Projekt werden: zu einer politischen Universität, die sich ihren akademischen Rang noch erobern musste. „Politisch“ freilich gerade nicht im Sinne einer bestimmten Ideologie, sondern wegen des klaren Bekenntnisses zu akademischer Freiheit auf der Grundlage einer demokratischen Gesellschaft und Staatsordnung. Oder war dieses Bekenntnis selbst ideologisch, eine Melange aus Kapitalismus und amerikanischem Imperialismus im Kalten Krieg? Der Konflikt um das Selbstverständnis als politische Universität beschäftigte die Dahlemer Gründung jedenfalls auch in den folgenden Jahrzehnten immer wieder.

Nicht zuletzt handelte es sich um eine studentische Universität. Ohne den Protest der Studierenden an der bald nach den Brüdern Humboldt benannten Linden-Universität wäre eine West-Berliner Universität erst später und ganz anders gegründet worden. Vielleicht hätte man die Technische Universität in Charlottenburg erweitert. Oder doch Dahlem, wo die im frühen 20. Jahrhundert entstandene Forschungslandschaft der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft sich für solche Zwecke anbot? Aber dann gewiss nicht in den institutionellen Bahnen, welche die seit November 1948 gültige Satzung der Freien Universität wies: mit studentischer Vertretung in allen Gremien, auch im Akademischen Senat – damals ein ganz unerhörter Einbruch in das Gefüge der alten deutschen Ordinarienuniversität.

Die Gründungsstudenten wie Klaus Heinrich, später Professor für Religionswissenschaft und einer der Magnete für intellektuelle Sinnsucher weit über Berlin hinaus, wollten etwas Neues schaffen, wollten Avantgarde sein. Am 4. Dezember 1948 saßen sie, bei der offiziellen Gründungsfeier, auf dem Podium des Titania-Palastes in Steglitz, dem größten Saal, den die amerikanische Zone der Stadt zu bieten hatte – aber nur, nachdem sie gegen die geplante Verbannung auf die hinteren Plätze protestiert hatten.

Der Autor ist Professor für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte an der Freien Universität Berlin.

DAS JUBILÄUMSJAHR

Am 4. Dezember jährt sich die Gründung der Freien Universität zum 70. Mal. Das Jubiläum wird im Laufe des Jahres mit Veranstaltungen und Projekten gewürdigt, die sich mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Freien Universität beschäftigen. Höhepunkt ist die Festveranstaltung am 4. Dezember 2018. Das Jubiläum soll Anlass sein, Mitglieder der Universität aller Generationen zu einem Austausch über ihre Erlebnisse zusammenzubringen.

Den Auftakt macht die Aktion „Gesichter der Freien Universität“, bei der Studierende, Lehrende, Beschäftigte und Ehemalige zu Wort kommen. Haben auch Sie etwas aus Ihrer Zeit an der Freien Universität zu berichten? Dann teilen Sie uns das bitte online mit: www.fu-berlin.de/70jahre

Paul Nolte

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