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Henri Nannen, aufgenommen im Jahr 1994 bei einem Empfang in Hamburg.

© dpa

100. Geburtstag des "Stern"-Gründers Henri Nannen: "Ihn ermorden, um an seiner Bahre zu weinen"

Leidenschaftlich, kampfeslustig, eitel: „Stern“-Gründer Henri Nannen wäre am ersten Weihnachtstag 100 Jahre alt geworden. Er war "drei Könige in einem König" - und hatte eine durchaus umstrittene Vergangenheit.

Weil er am ersten Weihnachtstag einhundert geworden wäre, ist über ihn alles in diesem Jahr schon gesagt und geschrieben worden, beispielsweise kritisch beleuchtet seine Karriere im „Dritten Reich“, beispielhaft liebevoll kritisch sein Leben von der Enkelin Stephanie Nannen („Henri Nannen – Ein Stern und sein Kosmos“) oder beispielgebend glanzvoll verdichtet vom ehemaligen „Stern“- Autor Claus Lutterbeck in der „Stern“-Edition „100 Jahre Henri Nannen“, weshalb am Ende des Regenbogens, wo nach Überzeugung aller neugierigen Journalisten ein Schatz vergraben sein muss, den zu finden sie einst in ihrer Jugend aufgebrochen sind, nur Persönliches nachzutragen bleibt.

Dieser Satz ist selbstverständlich zu lang und dürfte von Nannen in Einzelteile zerfetzt werden, falls ich ihn dereinst treffe im Fegefeuer der Eitlen. Dort müssen die meisten Journalisten, die ihre Deadline erreicht haben, auf das auch ihnen bevorstehende Jüngste Gericht warten. Viele haben ihre gesammelten Werke in den Koffer für die letzte Reise verpackt, bei Nannen reicht eine Wundertüte, auf der sein Mantra steht: Kinder, die Wahrheit hinter der Wirklichkeit müsst ihr suchen!

Persönliche Erinnerungen von ihm benannter Kinder sind fragil. Deshalb müssen Pfosten gegen links und rechts wegbrechendes Gelände eingerammt werden. Erst dann kann eigen Erlebtes aufleben.

Nannens Karriere im Zeitraffer: Er war Sprecher in Leni Riefenstahls Olympiafilm und Kriegsberichterstatter in einer Propagandakompanie. Weil er aktiv mitgelaufen war im Naziregime, bezeichnete er sich später mal in einem seiner berühmten Lieschen-Müller-Editorials als feige mitschuldig geworden. 1948 ließ er als Gründer, Chefredakteur, Herausgeber einen Stern aufsteigen, Vorbild die Nazi-Illustrierte „Der Stern“. Siebenzackig das Logo. Der von Nannen gezeugte, geboren von der Grafikerin Ursula Marquardt, hatte sechs Zacken und hieß einfach nur „Stern“.

Seine Lebensliebe leuchtete aus himmlischen Höhen und Nannen glänzte in diesem Schein. Auch deshalb war sein Absturz nach dem Skandal der gefälschten Hitler-Tagebüchern für ihn eine Art Liebestod. Seine Fluchtburg, die Kunsthalle Emden, erbaute Nannen mit der gleichen visionären Kraft wie einst den „Stern“, ihr blieb er bis zu seinem Tod 1996 treu wie zuvor keiner seiner zahlreichen Geliebten. Die Kunst begehrte er von Jugend an leidenschaftlich, so wie er lebenslang die schönsten Frauen eroberte oder sein Blatt zur besten und auflagenstärksten Illustrierten Europas trieb. Zwar war der journalistische Triebtäter einzigartig wie die anderen eigenartigen Großen seiner Zeit – Axel Springer und Rudolf Augstein –, aber ohne Volk hätte er es nicht schaffen können.

Statt Volk bei Fuß wie manch andere seiner Zunft es pflegten, scharte er selbstbewusste Ritter um sich. Die liebten und fürchteten ihn zugleich oder wie es Günter Dahl, einer aus jener Tafelrunde, ausdrückte: „Oft wollten wir ihn ermorden, um dann an seiner Bahre zu weinen.“ Auch dieses Bonmot über Nannen, der allenfalls eine bröckelnde Auflage fürchtete, aber weder Verleger noch Anzeigenkunden, wofür wir ihn liebten, ist tausendmal gedruckt worden.

Aus der Nähe sah ich ihn zum ersten Mal bei der Beerdigung des Verlegers Werner Friedmann 1969 in München. Dem großen Journalisten, der dort zu Grabe getragen wurde, hatte ich viel zu verdanken. Als Volontär verdiente ich bei Friedmann wenig, aber genug, um mir das Studium leisten zu können, und obwohl ich erst so alt war wie das von den Nazis befreite Deutschland, durfte ich das Feuilleton seiner Zeitung leiten, bevor ich 24 wurde. Alle waren damals forever jung, auch Alte über dreißig,

An jenem Vormittag der Beerdigung führten zwei der drei heiligen Monster aus Hamburg – Axel Springer fehlte – den Trauerzug zum Grab an: Rudolf Augstein und Henri Nannen. Ihre Magazine „Spiegel“ und „Stern“ waren für junge Journalisten so etwas wie jener am Ende des Regenbogens bereits erwähnte vergrabene Schatz. Besungene Sehnsucht. Viele fühlten sich berufen, wenige wurden je gerufen.

Jahre später saß ich in der Redaktionskonferenz des „Stern“ in der Todeskurve. Begrenzt war die von der leichten journalistischen Kavallerie aus den Ressorts Sport, Mode, Unterhaltung, Freizeit, Reise. Todeskurve deshalb, weil davon ausgegangen wurde, dass der Hauptdarsteller, der am Kopf des Tisches saß und schnaubte und tobte und brüllte und forderte und hin und wieder auch furzte nach dem Motto: was ich an Achtung verliere, gewinne ich an Gesundheit, nach den Themen aus deutscher Politik und Ausland und Wirtschaft bereits eingeschlafen war, bis endlich wir Nebendarsteller Laut geben durften. Als bekennender Hypochonder schien sein Interesse schlagartig abzusterben, sobald der Ressortleiter Medizin ausgeredet hatte. Von dem wollte Nannen immer mehr wissen als von anderen. Manchmal wurde der auch zum Privatissimum ins Chefredakteursbüro befohlen. Wehe ihm, er stellte eine falsche Diagnose.

Von wegen aber Nannen im Tiefschlaf. Er tat nur so. Wie ein Krokodil täuschte er geschlossenen Auges vor, in sich versunken zu sein, um mit gemeiner List dann gezielt nach dem zu schnappen, was wir als „Stern“-Beute nicht erkannt hatten. Er war instinktiv, gefühlig, eitel, leidenschaftlich, rachsüchtig, aggressiv, mitleidend, aber vor allem kampfeslustig neugierig und blühte stets dann zur großen Form auf, wenn das Chaos groß war. Wieso, weshalb, warum – wer nicht fragt bleibt dumm, ist ja nicht nur die Botschaft der Sesamstraße gewesen. Sondern neben der Lust, Mächtigen ein Bein zu stellen und sie in des Kaisers neuen Kleidern zu enthüllen, auch eine Formel für den Erfolg des „Stern“.

Was Siegfried Unseld mal in einem Brief an Thomas Bernhard schrieb, hätte auch der journalistische Verleger Nannen an seine Reporter schreiben können. „Ein Verleger ist ein Mann, der gewohnt ist, sich täglich neu von den Überlegungen, Imaginationen und Wünschen seiner Autoren überraschen zu lassen.“ Hauptaufgabe des Verlegers sei es doch, dafür zu sorgen, dass der Autor ständig eine gute Arbeitsmöglichkeit habe.

Die hatten alle hinter seinem breiten Hans-Albers-Rücken. Weil sie jeden irren Wunsch erfüllt bekamen. Der legendäre Erich Kuby ließ sich zum Beispiel auf „Stern“-Kosten seinen Flügel an die Adria schaffen, denn nur bei regelmäßigen Etüden habe er die besten Einfälle für eine Serie (die dann übrigens nie erschien). Hoch bezahlt mussten sie allerdings im Gegenzug auch immer bereit sein zu springen, Tag wie Nacht, sobald Nannen ein Stöckchen hoch hielt.

Talent und Instinkt und Leidenschaft, die Heiligen Drei Könige der Zunft, können nicht gelehrt werden. Nannen war drei Könige in einem König. Heute dünken sich Höflinge, die sich beim Kämmen in den Radkappen ihrer SUVs spiegeln, bereits als Kings. Ich stelle mir kurz vor, was er mit denen gemacht hätte – doch das ist nun wirklich zu persönlich.

Der Autor war von 1986 bis 1990 Chefredakteur des „Stern“.

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