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Erik Emptaz ist seit 25 Jahren einer der zwei Chefredakteure der französischen Wochenzeitung „Le Canard enchaîné“.

© AFP

100 Jahre „Canard enchaîné“: „Gefeiert wird später“

Die erste Ausgabe der satirischen Wochenzeitung „Canard enchaîné“ erschien vor hundert Jahren. Es war allerdings nicht die einzige "No. 1"-Ausgabe.

Herr Emptaz, eine der Besonderheiten Ihrer Zeitung sind die „interviews imaginaires“, die erdachten Gespräche, die Sie gelegentlich mit Personen des öffentlichen Lebens führen. Erlauben Sie, dass wir beginnen?

Allez-y ! (Nur zu!)

Wir wollen nicht willfährig sein...

Das wäre auch nicht in unserem Sinne. Und verträgt sich im Übrigen auch nicht mit dem Mittel der Satire, die seit jeher unser Programm ist.

Seit jeher? Der „Canard“ begann ausdrücklich als „journal humoristisque“, als humorvolle Zeitung. Den Untertitel „Journal satirique paraissant le mercredi“ hatte er sich erst später zugelegt.

Das stimmt, das war in den zwanziger Jahren. Da stand offenbar den Herausgebern der Humor schon zu sehr in der Nähe des Biedersinns. Erinnern Sie sich an einen Ihrer Theoretiker, an Theodor W. Adorno! War er es nicht, der damals das kleinbürgerliche Lachen des Komödienpublikums geißelte?

Gewiss. Er nannte auch einen Namen, Chaplin, hatte aber dessen Satire auf den Hitler-Staat noch nicht gesehen.

Ach ja, der Tramp, Charlot...

Charlie oder Charlot?

„Nous sommes Charlie.“

Wie meinen Sie das?

Einen Tag nach dem Attentat auf unser Schwesterblatt „Charlie Hebdo“ erhielten wir ernsthafte Drohungen. Auch hatten wir gemeinsame Mitarbeiter, die am 7. Januar umgebracht wurden. Denken Sie an Cabu. Wir drucken derzeit jede Woche eine Retrospektive seiner Strips.

Was unterscheidet die Geschwister?

Die Lautstärke. Unsere Farbe ist Schwarz. Und für die Titel- und die letzte Seite nehmen wir noch Scharlachrot. Auch haben wir immer sieben Spalten pro Seite. Auf solcher Enge ist schwer zu brüllen. Aber sie ist gut fürs Investigative. Unsere Informanten schätzen vielleicht, was Michel Foucault einmal „subreptice“ genannt hatte, eine gewisse Verstohlenheit.

Und was ist ihnen gemeinsam?

Die Unabhängigkeit von Werbekunden.

Funktioniert das?

Schauen Sie in unsere Jahresbilanz. Wir haben sie gerade in der letzten Nummer veröffentlicht: „2014 war wiederum ein herbes Jahr für die französische Presse: Die Verbreitung ist um neun Prozent für die Tages- und um sechs Prozent für die Wochenzeitungen zurückgegangen. Mit minus 2,5 Prozent folgte der ,Canard‘ dem Trend, wenn auch in geringerem Ausmaß.“ Wir verkaufen durchschnittlich immer noch 390 000 Exemplare pro Woche.

2011 waren Sie noch bei über einer halben Million...

die gesegneten Zeiten von Sarkozy!

Können Sie da ruhig schlafen?

Unser Gewinn ist mit 2,4 Millionen Euro weiterhin komfortabel. Und das bei einem Preis, der seit 1991 bei acht Francs, heute 1,20 Euro konstant geblieben ist.

Und im Internet?

Sie mögen uns konservativ nennen: Wir erscheinen nicht im Netz.

Unseren Glückwunsch!

Er ist verfrüht.

Pardon? Was ist zu früh?

Ihre Glückwunsche zu unserem Hundertsten. Wir feiern ihn erst in einem Jahr.

Aber war die Gründungsausgabe des „Canard enchaîné“ nicht am 10. September 1915 erschienen, gleich nach den ersten Frustrationen des, wie es bei Ihnen heißt, „Großen Krieges“?

Gewiss. Aber nach fünf Nummern mussten die Gründer, Maurice und Jeanne Maréchal, das Blatt vorübergehend einstellen... um im Juli 1916 erneut aufzutreten. Wiederum mit einer „No. 1“, aber diesmal mit Erfolg.

Die Frühgeburt wäre also der Makel einer Erfolgsgeschichte?

Zugegeben: das ist Willkür.

Erik Emptaz ist seit 25 Jahren einer der zwei Chefredakteure der französischen Wochenzeitung „Le Canard enchaîné“. Das Gespräch führte Hendrik Feindt.

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