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© NDR Presse und Information

9. NOVEMBER: Zettelwirtschaft

Ein ARD-Film rekonstruiert die Nacht, in der die Mauer fallen gelassen wurde.

Den Zettel, der Weltgeschichte schrieb, haben wir nun schon oft genug gesehen. Auch Günter Schabowskis Vortragskunst ist in aller Ohren. Aber „Schabowskis Zettel“ heute im ersten Programm zeigt mehr. Die Dokumentation von Marc Brasse und Florian Huber rekonstruiert diesen Novembertag, den sowohl Schabowski als auch der sowjetische Gesandte vom frühen Morgen an nicht mochten: viel zu trübe. Weltuntergangsklima.

Ein westdeutsches Kamerateam streifte durch Ostberlin. Es fand vor allem zwei Polizisten, die vor dem Palast der Republik einen Schwan fingen. Ein junger Arbeiter sprach in die Kamera: „Wir haben eine Weltanschauung, obwohl wir uns die Welt noch gar nicht angeschaut haben. Das ist es doch.“ Absolut, aber nur noch ein paar Stunden lang, weshalb dieses Material, überholt von der Geschichte desselben Tages, noch nie gezeigt wurde.

Ein paar Meter von Spree und Schwan entfernt fand die 10. Tagung des Zentralkomitees der SED statt. Nur Günter Schabowski, der neue Medienbeauftragte des ZK, war fast nie da – der Medien wegen. Das Beste an diesem Film sind seine beiläufigen Details. Schabowski sagt selbst, was an seiner Funktion überwältigend neu war: der Name. Er lautete nicht mehr Beauftragter für „die Lenkung und Anleitung der Medien“, sondern Beauftragter für den „Umgang mit den Medien“. Am Abend moderiert das DDR-Fernsehen die Tatsache, dass das ZK der SED während einer Tagung Pressekonferenzen gibt, so: „Eine gestern begonnene Tradition wird fortgeführt.“

Marc Brasse und Florian Huber verfolgen den Tag chronologisch auf der Spur von sieben Personen. Oberstleutnant Harald Jäger, Leiter der Passkontrolleinheit an der Bornholmer Straße, ahnt noch längst nichts vom Befehlsnotstand, seiner Befehlsverweigerung am späten Abend. In Westberlin lernt ein Medizinstudent fürs Examen und schaut nebenbei Fernsehen, am liebsten Parteitagsberichterstattung: je langweiliger, desto besser die Konzentration. Oberst Gerhard Lauter, neuer Leiter der Hauptabteilung Pass- und Meldewesen im DDR-Innenministerium, arbeitet mit einigen Genossen einen neuen Reiseregelungsvorschlag aus – nicht ganz im Sinne des ZK, eigentlich gar nicht im Sinne des ZK, aber dieses würde die Sache schon prüfen. Tom Brokaw, Reporter des US-Networks NBC, fliegt inzwischen über den Atlantik. Und wegen diesem „Parteitagsscheiß“ sitze ich hier, sagte er sich todmüde noch auf der Pressekonferenz, kurz vor der berühmten Nachfrage: „Und wann tritt das in Kraft?“ Zur Zeit der Pressekonferenz übt ein Ostberliner Tischler-Ehepaar im Kirchenchor eins der schönsten Weihnachtslieder: „Macht auf die Türe, die Tor macht weit …“ und weiß noch nicht, dass es bald ganz allein über die dunkle Bornholmer Brücke in den Westen gehen wird, im Pass ein Stempel überm Lichtbild, der bedeutet: Wiedereinreise verweigert.

Das Mosaik eines nicht ganz gewöhnlichen Tages, natürlich mit den unvermeidlichen nachgestellten Spielszenen, diesem Fernsehkindergarten für Erwachsene. Aber sie sind gut eingebunden und durch originelle Bildlösungen ergänzt, bis hin zum vierfach geteilten Bildschirm. Nur eine Spur, vielleicht die interessanteste, haben Brasse und Huber nicht weiter verfolgt: Am Abend zuvor hatte selbst das SED-Parteivolk zornig und hohnlachend vorm ZK demonstriert. Wieder dieselben Leute an der Spitze! War die Maueröffnung vielleicht doch kein Unfall gewesen, sondern ein bewusster allerletzter Versuch „derselben Leute“, noch etwas länger an der Macht zu bleiben? Kerstin Decker

„Schabowskis Zettel. Die Nacht als die Mauer fiel“, 21 Uhr, ARD

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