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Zum 60. Geburtstag der Zeitung gab es 41 Millionen Gratis-Exemplare der Ausgabe. Mehr als 238.000 Menschen haben auf Websites der ungefragten Zustellung widersprochen.

© dapd

Ärger und Freude: Meine "Bild": Erinnerungen zum 60. Geburtstag des Boulevardblatts

Seit 60 Jahren erscheint die Boulevardzeitung aus dem Axel Springer Verlag. Sieben Autoren reflektieren und reportieren, sie enthüllen und sie bilanzieren.

WIBKE BRUHNS

„Bäbä“ pflegte meine Mutter zu sagen, wenn ich meine Hände in etwas Unappetitliches grub. „Bäbä“ war auch die „Bild“-Zeitung, als ich 1960 dort mit knapp 22 als Volontärin anheuerte. Meine studentischen Kumpane trieften vor Hohn: Das schien angemessen – Studium geschmissen, weil sie (ich) Hegel nicht verstand, und jetzt ein Blatt auf meinem Niveau. Aber ich war tapfer. Ich wusste, hier konnte ich Zeitung lernen. Tat ich auch. Mein Chefredakteur zu der Zeit war Karl-Heinz Hagen, ein Hansdampf in allen journalistischen Gassen. Der brachte mir kurze Sätze bei und die Verantwortung für den Genitiv. Er rief mich zur Ordnung, wenn ich schnoddrig war: „Boulevard hat nichts mit schlechten Manieren zu tun.“

Ich kündigte 1961 das Volontariat vorzeitig, weil eine Schlagzeile nach dem Mauerbau die DDR mit Nazi-Deutschland gleichsetzte. Ich hatte nichts mit der DDR am Hut, aber Äpfel und Birnen wollte ich getrennt sehen. Später: Wer war 1967 der geistige Wegbereiter für den Tod von Benno Ohnesorg, wie weit ging die Verantwortung von „Bild“ 1968 für das Attentat auf Rudi Dutschke? Ich war froh, da raus zu sein. Lese ich heute noch die „Bild“-Zeitung? Außer im Flugzeug oder im ICE nicht. Das Blatt langweilt mich. Ja doch, Boulevard ist nötig, damit Menschen Zeitung lesen. Aber ich muss doch nicht, oder?

Wibke Bruhns ist Journalistin und Autorin. Gerade veröffentlichte sie „Nachrichtenzeit. Meine unfertigen Erinnerungen“.

JÜRGEN ENGERT

14. Oktober 1957. „Bild“, Deutschlands größte Tageszeitung, erstmals mit einer Berliner Ausgabe präsent. Dreihundertausend Startauflage. Ein Paukenschlag. In einer Stadt mit Bevölkerungsschwund. Mit Überalterung. Jeden unter sechzig mit Handschlag begrüßen. Arbeitslosigkeit en masse. Eine Teilstadt. Als „Haupt“ nur noch plakatiert. Die einstige Medienmetropole Europas: zur Sage geworden.

Wer sich auf diesem geschlossenen und aufgeteilten Markt neu platzieren will, muss den angestammten Marketendern Kundschaft rauben. Der Einzug von „Bild“ bringt die Alarmglocken in den einheimischen Verlagen in Schwung. „Bild“ nimmt weg. Die ursprünglichen Blütenträume von Axel Cäsar Springer aber reifen nicht. Der Berliner Volksseele ist das Blatt merkwürdig fremd. Ihm fehlt der Stallgeruch. Onkel Pelle bleibt bei seiner „BZ“. Oder seiner „Mottenpost“. Für das politische Meinen in Berlin ist „Bild“ weitgehend ohne Belang. Der Regiermeister Willy Brandt als Altvorderer. „Bild und Glotze“ keine Dreh- und Angelpunkte. Die Zeitung bloß eine Nebenstimme einer im Chor singenden besonderen gesellschaftlichen Einheit, die in Ruhe und Ordnung das Fundament ihrer Selbstbehauptung sieht.

Das ändert sich Mitte der sechziger Jahre. Als Jungvolk-Züge zwischen Flensburg und Bodensee aufbrechen, um das westliche Berlin als riesigen Abenteuerspielplatz zu entdecken. Hier die Revolution erst proben und danach auch gleich vollenden. Notfalls mit tödlichem Ernst. Da macht „Bild“ Front. Nicht allein. Aber besonders lautstark. Und rigoros. Ohnegleichen. Kampf wird angesagt. Und gekämpft wird ohne Bandagen. Auf beiden Seiten. Ein Massenblatt wird zur Metapher. „Bild“: Ein deutsches Elitenproblem. Der Mehrheit der Insulaner, luftbrückengestählt, geht es nicht unter die Haut. Die FU? Janz weit draußen! Als sich zwei Zeitungen, Der Tagesspiegel und „Der Abend“ aufmachen, nach dem Tod von Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 zwischen den Fronten zu moderieren mit Berichten und Kommentaren, werden sie aus den Sturmabteilungen beschimpft: „Scheiß-Liberale“!“ 1967: Ein Kollege aus dem Springer-Bunker an der Kochstraße geht grußlos an mir vorbei. Jetzt, 2012, grüßen wir uns wieder. Und sprechen auch miteinander. Es ist ja auch eine Weile her. Veteranen unter sich.

Jürgen Engert war Chefredakteur des „Abend“, er arbeitete als Chefredakteur des SFB-Fernsehens und war Gründungsdirektor des ARD-Hauptstadtstudios.

Hans-Hermann Tiedje und Renate Künast

„Gedrucktes Fernsehen“, das war die Absicht von Axel Springer, als er am 24. Juni 1952 die erste „Bild“ auf den Markt brachte. Das ließ sich nicht lange durchhalten. Schnell kamen zu den großen Bildern die großen Buchstaben – und am Samstag die größte Auflage. Neben der regulären „Bild“ gab es die „Frei-Bild“ für knapp 41 Millionen Haushalte.
„Gedrucktes Fernsehen“, das war die Absicht von Axel Springer, als er am 24. Juni 1952 die erste „Bild“ auf den Markt brachte. Das ließ sich nicht lange durchhalten. Schnell kamen zu den großen Bildern die großen Buchstaben – und am Samstag die größte Auflage. Neben der regulären „Bild“ gab es die „Frei-Bild“ für knapp 41 Millionen Haushalte.

© ASV/Repro:Tsp

HANS-HERMANN TIEDJE

Am Freitag, dem 13. (Oktober 1989), erschien „Bild“ mit der exklusiven Schlagzeile: „Honecker: Mittwoch letzter Arbeitstag“. Der erste Satz lautete: „Am kommenden Mittwoch, dem 18. Oktober, also in genau fünf Tagen, ist der letzte Arbeitstag von Erich Honecker als SED-Chef.“ Fünf Tage lang hielten die Deutschen den Atem an, nicht nur Normaldeutsche West, sondern auch Putschisten Ost. Denn Egon Krenz, Erich Mielke, Willy Stoph und andere DDR-Größen hatten sich in der Tat heimlich verabredet, mit Honecker Schluss zu machen, genau für den kommenden Mittwoch. Die seherische „Bild“-Schlagzeile war das Schlimmste, was ihnen passieren konnte. Fünf Tage lang mussten sie Honecker in die Augen schauen, heucheln, lügen, freundlich sein, wie das eben so war im SED-Politbüro. Egon Krenz hat mir das später bestätigt. Und fünf Tage lang fragten sich die Kollegen im Westen: woher weiß „Bild“ das?

Ich will es hier exklusiv enthüllen.

Justus Frantz, Deutschlands international gefeierter Dirigent und Komponist, kam zu uns in die Redaktion nach Hamburg und sagte, er habe da was. Er habe am Vortag ein Gespräch mit angehört, im Künstlerdorf Ahrenshoop oben an der Ostseeküste, zwischen Hans Pischner, dem Präsidenten des DDR-Kulturbundes, und Hermann Axen, Politbüro, und Kurt Hager, ebenso Politbüro. Justus saß am Nebentisch, blätterte in seinen Noten, und die Topfunktionäre plauderten ungeniert drauf los, ohne ihn zur Kenntnis zu nehmen. So erfuhr der erstaunte Justus Frantz alles.

Und er wusste, wem er es mitteilen konnte. Tags drauf stand es in „Bild“. Es folgte das Übliche: „Tagesschau“, „heute“, Print europaweit, Radio. Und fünf Tage später stellte sich dann heraus: „Bild“ hatte mal wieder recht gehabt. Noch Fragen?

Hans-Hermann Tiedje war von 1989 bis 1992 Chefredakteur von „Bild“.

RENATE KÜNAST

Die Geschichte von „Bild“ ist für mich untrennbar mit den Namen Rudi Dutschke und Günter Wallraff verbunden. 60 Jahre „Bild“ haben aber auch gezeigt: „Bild“ macht Meinung. Daran kommt niemand vorbei, der in Deutschland Politik machen will. Das kann eine echte Herausforderung sein, denn „Bild“-Geschichten bewegen sich nicht selten in der Grauzone zwischen Dichtung und Wahrheit. „Bild“ ist Glaubenssache.

Die Zeitung selbst glaubt zu wissen, was das Volk denkt, die „Bild“-Gegner glauben, „Bild“ sei das Böse schlechthin, und die Leserinnen und Leser glauben höchstens die Hälfte von dem, was man so lesen kann. Deshalb sage ich immer die ganze Wahrheit, damit mindestens die Hälfte übrig bleibt. Aber: „Bild“ wird es auch in Zukunft geben. Wir werden die Zeitung lesen, wir werden uns ärgern, wir werden uns amüsieren. Die Demokratie in Deutschland ist in den 60 Jahren „Bild“ gewachsen und stabil geworden. Der Rechtsstaat kann eine Zeitung wie „Bild“ aushalten.

Renate Künast ist Vorsitzende der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Sebastian Krumbiegel, Klaus Staeck und Beate Wedekind

SEBASTIAN KRUMBIEGEL

Vor ein paar Jahren war ich auf einer Lesereise mit Flüchtlingsgeschichten von Migranten in Deutschland. Abend für Abend habe ich vor 100 bis 200 Leuten gelesen und diese auch erreicht. Mein Ziel war es, Respekt für diese Menschen zu generieren. Eines Tages sah ich dann die große Schlagzeile der „Bild“. Der Tenor war: Wir haben zu viele kriminelle Ausländer. Es war eine Kampagne für die Wiederwahl des hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch von der CDU – eine Kampagne, die vor rassistischen Stereotypen nicht haltmachte. Darüber habe ich mich sehr geärgert.

Kurz darauf war ich zum Leipziger „Bild“-Osgar eingeladen und habe mir vorgenommen: Wenn du jetzt den Champagner von Kai Diekmann trinkst, sprich ihn wenigstens darauf an. Gesagt, getan. Der „Bild“-Chef hatte ein offenes Ohr und lud mich in sein Berliner Büro ein. Das Gespräch war geprägt von gegenseitigem Respekt. Ich erzählte ihm von meiner Lesetour und davon, wie kontraproduktiv ich in diesem Zusammenhang seine Zeitung sah. Er hat aufmerksam zugehört und beteuert, dass er Rassismus ablehne, was ich ihm persönlich auch abnehme. Nun wissen wir, wie Boulevard-Journalismus funktioniert, und wir wissen, dass gerade diese Form des Journalismus mit einer großen Verantwortung verbunden ist. Natürlich weiß ich, dass ich weder Kai Diekmann noch die „Bild“ in ihren Grundinhalten ändern werde. Vielleicht war meine Aktion blauäugig, aber ich habe es wenigstens versucht. Und ich denke, dass steter Tropfen doch den Stein höhlt.

Sebastian Krumbiegel ist Musiker und Gründungsmitglied der „Prinzen“.

100 Jahre Axel Springer. Das Leben des Bild-Herausgebers in Bildern:

KLAUS STAECK

„Bild“ habe ich zum ersten Mal mit 19 als Praktikant auf dem Bau wahrgenommen. Das Blatt las dort jeder. Ich habe schnell gemerkt, wie perfide da mit Menschen umgegangen wird. Immer wieder werden Leute fertiggemacht zur Freude anderer. „Bild“ versteht es, menschliche Schwächen auszuloten und sich genau dort festzubeißen. Im Grunde ist es das alte Kampfblatt geblieben, denn es befriedigt nach wie vor auch das Bedürfnis seiner Leser nach Niedertracht. Der Unterschied: Das Blatt ist heute salonfähig und gilt als seriös und zitierfähig. Das ist der eigentliche Tabubruch. Früher hätte man sich nicht öffentlich auf „Bild“ berufen können, ohne ausgelacht zu werden. Denn kaum jemand wollte sich auf das „Bildzeitungsniveau“ begeben.

Viele, die es besser wissen sollten, nehmen das Massenblatt als lustig und harmlos wahr. Genau das ist es nicht. Das gilt auch für die Politik, die es indirekt mit an den Verhandlungstisch lässt. Seine Meinungsführerschaft beruht auf einem Fundament aus Feigheit und der Angst der Verweigerer vor der Schlagzeile. Viele verachten „Bild“ und sind trotzdem zum Interview bereit. Mitschuld am täglichen Machtmissbrauch tragen alle, die das Blatt kaufen, dort Anzeigen schalten, sich unter Druck setzen lassen. Vor allem jene Medienvertreter, die „Bild“ zum Zentralorgan haben werden lassen. Ich meine, wer über die Meinungsführerschaft von „Bild“ jammert, darf sie ihr gar nicht erst zugestehen.

Klaus Staeck ist Präsident der Akademie der Künste in Berlin.

BEATE WEDEKIND

Ich war 29, als ich 1980/1981 bei der Berliner Tageszeitung „Der Abend“ volontierte. Leider konnte der überaus engagierte, in Berlin ansässige persische Unternehmer Hossein Sabet, der das Blatt aus dem Konkurs gerettet hatte, die Zeitung nicht halten. Und so wechselte ich als Jungredakteurin zu „Bild“. Vom ersten Tag an habe ich die Arbeit bei „Bild“-Berlin geliebt.

Meine Zeit dort war ein Intensivkurs im Tageszeitungs-Journalismus! Morgens machte ich einen Eisbechertest auf dem Ku’damm, mittags lief ich mit Sturzhelm als rasende Reporterin bei den Hausbesetzer-Demos mit und abends durfte ich bei den Dreharbeiten von Rainer Werner Fassbinders 41. Film „Querelle“ Mäuschen spielen.

Selbstverständlich romantisiere ich das gerade jetzt fürchterlich. Es war eine harte Schule. Aber seit damals kenne und liebe ich „Bild“, lese die Zeitung sieben Mal in der Woche, gehe mehrmals täglich auf bild.de.

Natürlich schüttle ich gelegentlich den Kopf über die Schonungslosigkeit, mit der Themen umgesetzt werden. Aber ich kenne keine Zeitung, die ihre Leser so gut und in allen Lebenslagen kennt wie „Bild“ Und ich bin stolz darauf, einen wichtigen Teil meiner Ausbildung bei dieser Zeitung gemacht zu haben. Zwei Leitsätze begleiten mich seitdem: Auch in zehn Zeilen kannst du guten Journalismus machen. Und: Das Leben passiert draußen und nicht am Schreibtisch.

Beate Wedekind war Chefredakteurin von „Elle“ und „Bunte“ und ist Herausgeberin des Magazins „365_oneworld“.

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