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Medien: Anwalt des Lesers

Nach dem Skandal um einen Lügenreporter soll ein Ombudsmann die „New York Times“ glaubwürdiger machen

Daniel Okrent hat im Augenblick den vielleicht schwierigsten Job bei der „New York Times“: Er wurde vor einigen Wochen zum ersten „Public Editor“ der Zeitung bestimmt und hat damit die Aufgabe, sowohl die Interessen der Leser zu vertreten als auch den Times-Redakteuren und Reportern sanft auf die Füsse zu treten, wenn die Berichterstattung unausgewogen scheint, oder ein Thema ganz vernachlässigt wurde.

„Wenn die Times dich fragt, ob du der Erste sein willst, der die Zeitung öffentlich kritisiert, ist es schwer, nein zu sagen“, schreibt Okrent in seiner ersten Kolumne, die am Sonntag erschien. „Aber es ist auch schwer, ja zu sagen: Man kann sich einfachere Wege vorstellen, sich Freunde zu machen.“ Journalisten sind offenbar weltweit dafür bekannt, dass man „ihre Dickhäutigkeit in Mikrometer und ihr Erinnerungsvermögen in Elefantenjahren“ messen kann. Doch resolut wischt er jene Zweifel vom Tisch: „Das ist ihr Problem, nicht meines.“

Jahrzehnte lang hatte es die „New York Times“ abgelehnt, einen „public editor“ oder, wie die Position noch genannt wird, einen „Ombudsmann“ einzusetzen. Dabei hatte es schon vor dem Skandal um den Lügenreporter Jason Blair, der die Zeitung in die schlimmste Krise seit ihres Entstehens stürzte, fehlerhafte Stories und unausgewogene Berichterstattung gegeben. So hatte die „NYT“ bei den so genannten „Whitewater“-Untersuchungen gegen Hillary Clinton und den Spionage-Anschuldigungen gegen den Atomphysiker Wen Ho Lee eine treibende Rolle gespielt. In beiden Fällen konnte am Ende keine Schuld nachgewiesen werden.

Doch die „NYT“ wurde heruntergeholt von ihrem hohen Ross, und folgt nun in die Fusstapfen von rund 40 weiteren US-Zeitungen, die bereits einen Ombudsmann haben, als prominenteste die Washington Post, deren „public editor“ Michael Getler die Seinen selten zimperlich behandelt. Doch der 55-jährige Okrent hat ausreichend Erfahrung in der Branche. Schließlich war der Vollblut-Journalist 25 Jahre lang selbst Reporter und Redakteur, hauptsächlich bei Magazinen. Einen seiner imageträchtigsten letzten Jobs hatte er beim „Time“-Magazin, wo er ausgesucht wurde, die heikle Geschichte von der Fusion zwischen AOL und Time Warner, dem eigenen Brötchengeber, zu schreiben.

In der Tradition der „New York Times“, Interessenskonflikte umgehend zu enthüllen, und wohl auch, um sich selbst weniger angreifbar zu machen, legt Okrent in seiner ersten Kolumne offen, er sei politisch gesehen ein Demokrat, jedoch rechts von der Mitte und liege damit irgendwo „zwischen dem ,Times’-Editorial und der Kolumne von William Safire“ – dem früheren Berater des Republikaners Richard Nixon und heutigen „NYT“-Journalisten. In einem süffisanten Kommentar am Rande gibt Okrent zum besten, wie ein „NYT“-Kritiker vor Jahren eines seiner Bücher verrissen habe. Okrent habe, so wurde er da beschuldigt, „Probleme mit Details, Rhythmus und sogar einzelnen Wörtern“. Was Wunder, schließlich hatte Okrent ein Buch eben jenes Kritikers drei Jahre zuvor ebenso verrissen – und zwar in der „New York Times“. Womit wir wieder bei der Dünnhäutigkeit sind. Okrent verkniff sich in seiner ersten Kolumne jede Referenz zu Jason Blair. Zu viel der Ehre, mag er sich gedacht haben, es ist Zeit, die Geschichte hinter sich zu lassen. Dagegen thematisiert er, wie viele seiner Freunde und Kollegen sich regelmäßig an der Berichterstattung der „NYT“ stoßen, etwa darüber, dass man kaum noch etwas über die Lage in Afghanistan zu lesen bekäme, oder, dass die Zeitung sich in ihrer Israel-Kritik „antisemitisch“ gebe.

Okrents grösste Herausforderung wird die gleiche sein, wie die der „New York Times“ selbst: in seiner Kritik an der Zeitung ausgewogen zu bleiben und äußeren Einflüssen zu widerstehen. Zu diesem Zweck, so schwört er, wird er sich „alle Mühe geben, nicht mit den ,Times’-Leuten ,off the record’ zu sprechen“. Dass diese damit rechnen müssen, zitiert zu werden – und sich den Themen anzunähern, als sei er ein gewöhnlicher Leser.

Bleibt nur noch zu bedenken, dass die „New York Times“ ja auch die Lieblingslektüre aller jener 10000 Journalisten ist, die in New York leben und arbeiten.

Die NYT im Internet:

www.nytimes.com

Gerti Schön

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