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Viele Gerichtsentscheidungen beruhen auf den Ergebnissen von Gutachten. Dabei herrscht keineswegs Chancengleichheit.

© Uli Deck/dpa

ARD-Doku über die Macht der Gutachter: Wehrlos gegen das System

Gutachter können Leben verändern und Karrieren beenden: Eine ARD-Dokumentation beschreibt die Auswüchse der „Gutachterrepublik“.

Wenn ein Gutachter nach einem halbstündigen Gespräch aufsteht und sagt „Machen Sie sich keine Sorgen. Alles wird gut“, dann kann dies alles Mögliche bedeuten, jedoch nicht unbedingt etwas Gutes. Sicher ist nur eines: Solch ein Expertenurteil wiegt schwer und kann Leben verändern und Karrieren beenden, wie die ARD-Reportage „Die Gutachterrepublik“ am Montagabend eindrucksvoll belegt. Selbst für politische Zwecke lassen sich Gutachten missbrauchen, wie Jan Schmitt in seinem gleichermaßen interessanten wie spannend gestalteten TV-Beitrag zeigt.

In einem Fall wurden mehrere unliebsame Mitarbeiter der Steuerfahndung in Frankfurt am Main aus dem Amt gedrängt. Zumindest sehen es die Betroffenen und der Autor des Films so. Die Steuerfahnder haben demnach in der Finanzmetropole unter anderem den großen Banken und Investmentunternehmen auf die Finger geschaut und so dafür gesorgt, dass Steuern in Höhe von einer Milliarde Euro nicht am Fiskus vorbeigeschleust wurden. Dabei, so wird geschildert, sind sie möglicherweise der hessischen CDU unter Roland Koch und den seinerzeit dort vorhandenen schwarzen Parteikassen zu nahe gekommen, denn danach werden die Steuerfahnder Stück für Stück aufs Abstellgleis gestellt. Ihre Abteilung wird aufgelöst, bis dann nach jenen halbstündigen Gutachtergesprächen das Urteil „dienst- und teildienstuntauglich“ gefällt wird. Zwar bemerkt dies später der Versicherungsträger, sodass die Gutachten aufgehoben und der Gutachter wegen Missbrauchs seiner medizinischen Stellung verklagt wird, doch ihre Jobs sind die Steuerfahnder dennoch los.

Die Ärzte können ihr nicht helfen, die Versicherung lässt sie im Stich

In dem menschlich bedrückendsten Fall, den Schmitt aufgreift, geht es um eine junge Frau, die am Ende einer medizinischen Odyssee ein Bein verliert und von ihrer Versicherung auf perfideste Weise im Stich gelassen wurde. Ein Pferd tritt der Reitlehrerin während ihrer Arbeit vor ein Bein. Das löst zugleich eine seltene Immunschwäche-Erkrankung aus mit der Folge, dass das Bein immer stärker anschwillt, sich entzündet und Nekrosen bildet. Die Ärzte finden lange keinen Weg, der jungen Frau zu helfen. Und ihre Unfallversicherung macht die Schotten dicht und will nicht für den nötigen Umbau des Hauses sowie für den Verdienstausfall zahlen. Auch nach fünf Jahren ist der Streit mit der Versicherung noch nicht beendet.

Die Betroffenen sind gegen dieses Gutachtersystem häufig absolut wehrlos, selbst wenn sie wie die junge Reitlehrerin durch ihre Familie nach Kräften unterstützt werden. Gegen die Einschätzung der behandelnden Ärztin, die einen klaren Zusammenhang zwischen Unfall und Erkrankung herstellt, wird die Versicherung zwei Gutachten „nach Aktenlage“ erstellen lassen. Ohne auch nur ein einziges Mal mit der Frau gesprochen zu haben, wird ihr darin ein psychischer Defekt attestiert. Im ersten Aktenlage-Gutachten wird ihr unterstellt, sie wolle gar nicht gesunden, im zweiten heißt es dann sogar, sie habe sich die Verletzungen aus Geldgier selbst zugefügt.

Gemäß den journalistischen Regeln hat der Autor des Filmes die Auftraggeber der Gutachten mit seinen Rechercheergebnissen konfrontiert. Dass diese überhaupt auf die Anfragen reagieren, ist schon bemerkenswert. Dass die Erklärungen jedoch noch abenteuerlicher ausfallen als die Gutachten, ist nicht erstaunlich.

Gutachten werden am Fließband produziert, sagt die Kronzeugin

Für seinen Film hat Schmitt mit den Betroffenen vor laufender Kamera gesprochen. Offen heraus berichten sie von ihren Erfahrungen und ihrer Ohnmacht angesichts der Macht der Gutachter. Und Schmitt hat eine Kronzeugin gefunden, eine ehemalige Versicherungsmitarbeiterin. Sie berichtet von Instituten, die Gutachten am Fließband produzieren.

Dokumentationen wie „Die Gutachterrepublik“ machen auf Missstände aufmerksam, die den Betroffenen zwar schmerzlich bewusst, aber von der Öffentlichkeit in ihrem Ausmaß nicht bekannt sind. Tatsächlich gäbe es sogar eine Lösung für das Problem, wie der TV-Beitrag meint. Der Berliner Versicherungsrechtler Hans-Peter Schwintowsky plädiert für die Anonymisierung des Verfahrens, bei dem der Gutachter nicht weiß, in wessen Auftrag er tätig ist. „Dann werden wir objektive Gutachten bekommen“, sagt er.

„Die Story im Ersten: Die Gutachterrepublik – Wenn Rechtsprechung privatisiert wird“, ARD, Montag, 22 Uhr 45

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