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Auf Diät: "Twitter ist brutaler"

Fünf Journalisten frankofoner Radiosender lebten fünf Tage allein mit sozialen Netzwerken. Nicolas Willems spricht mit dem Tagesspiegel über soziale Netzwerke als Informationsquellen.

Herr Willems, Sie haben in dieser Woche eine ungewöhnliche Diät gemacht. Zusammen mit vier anderen Journalisten haben Sie sich in einer einsamen Hütte eingeschlossen und nur Nachrichten konsumiert, die über die Netzwerke Twitter und Facebook verbreitet wurden. Hatten Sie Entzugserscheinungen?


Am Anfang war es schwierig. Als Journalist ist man gewöhnt, eine ganze Bandbreite von Informationen zu nutzen, Fernsehen, Zeitungen, Nachrichtenagenturen. Die Situation war sehr künstlich, selbst netzaffine Menschen nutzen ja nie nur diese beiden Quellen. Aber wir haben gehofft, so schneller zu lernen, was die Vor- und Nachteile der sozialen Netzwerke als Informationsquellen sind.

War es schwierig, über Twitter und Facebook an Informationen zu kommen?


Es war vor allem sehr zeitaufwendig. Normalerweise dauert es Monate oder Jahre, um ein Netzwerk aufzubauen, in dem man seine Kommunikationspartner gut einschätzen kann. Es kostet auch viel Zeit, die Nachrichten zu hierarchisieren. Die Leute kommunizieren, was sie ganz persönlich interessiert. Und das ist nicht unbedingt das, was in der Zeitung auf der Seite eins steht.

Soll ich Ihnen verraten, was heute Morgen ganz oben auf der Internetseite der belgischen Zeitung „La Libre“ stand?


Na gut, eine Sache dürfen Sie mir sagen.

Ganz oben stand ein Artikel darüber, was Lease-back-Geschäfte den belgischen Staat kosten.


Davon habe ich noch nicht gehört.

Darunter geht es um die Opfer einer Explosion in Liège.


Das wurde auch in den Netzwerken die ganze Woche diskutiert. Ohnehin sind die Nachrichten, die auf Twitter und Facebook ausgetauscht werden, oft gar nicht originär. Ich schätze, nur 30 Prozent der Meldungen auf Twitter und Facebook sind echte Neuigkeiten. Die übrigen 70 Prozent sind Presseberichte.

Was ist dann der Mehrwert der Netzwerke?


Twitter hat eine Art Alarmfunktion und ist wertvoll, um Kontakte herzustellen. Twitter und Facebook waren auch nie als Informationsdienste geplant. Doch sie entwickeln sie sich immer mehr dazu.

Sie mussten auch feststellen, wie schwer es auf Twitter ist, Nachrichten auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen.


Der „Knall von Lille“ war da ein Schulbeispiel. Am Dienstagabend meldete jemand eine Explosion in Lille. Das hat in der Twittersphäre sehr schnell die Runde gemacht, 5000 Nachrichten innerhalb von zwei Stunden! Die Leute machten sich Sorgen, es gab Gerüchte über ein brennendes Gebäude. Bis eine Lokalzeitung aufklärte, dass es nur der Knall von einem Flugzeug war, das die Schallmauer durchbrochen hatte.

Gibt es Unterschiede zwischen Twitter und Facebook?


Auf jeden Fall. An dem Abend des „Knall von Lille“ habe ich eine Nachricht eingestellt und um Hilfe bei der Aufklärung gebeten. Über Facebook habe ich deutlich präzisere Hilfe bekommen. Vielleicht liegt das daran, dass die Leute bei Facebook weniger anonym sind und deshalb vor Falschmeldungen zurückschrecken. Twitter ist da manchmal brutaler.

Es wurde kritisiert, dass die Aktion vorher bekannt war und Sie und Ihre Kollegen immer wieder im Radio waren.


Vielleicht hat das die Erfahrung verändert. Es hat aber auch dazu geführt, dass die Leute uns interessante Fragen gestellt haben und eine Diskussion angestoßen wurde. Schade war nur, dass wir auf Twitter von einigen Mitgliedern der Netzgemeinschaft regelrecht beschimpft worden sein. Den Konflikt zwischen den alten und den neuen Medien gibt es noch immer. Ich meine, es ist wie beim Tanzen. Man braucht zwei Seiten dafür. Die klassischen Journalisten brauchen die Netzwerke und die Netzwerke brauchen die klassischen Journalisten.

Das Gespräch führte Anna Sauerbrey.

Zur Person:
Nicolas Willems, 33, ist Journalist beim frankofonen Brüsseler Radiosender La Première-RTBF, wo er sich mit internationaler Politik beschäftigt.

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