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Alle Kameras sind in Brasilien während der WM auf den Fußball gerichtet. Im Mittelpunkt steht dabei auch der inzwischen verletzte Spieler Neymar.

© AFP

Berichterstattung aus Brasilien: Kollektives Kuscheln

Seit dem Anpfiff zur WM sind die Proteste gegen den Staat und das Sportereignis kein Thema mehr in Brasiliens Medien. Sie kennen nur noch eins: Fußball. Das könnte sich am Dienstagabend wieder ändern.

Das Spiel gegen Kolumbien ist abgepfiffen, es herrscht gute Stimmung in der Reporter-Kabine von Globo TV. Wie immer bei Partien der brasilianischen Nationalmannschaft hat Galvao Bueno kommentiert, 64-jähriger Seniormoderator und Platzhirsch des Senders. Und wie immer stehen nun zwei Ko-Moderatoren und ein Ex-Fußballer – in diesem Fall Ronaldo – zur Spielbesprechung neben ihm. Es ist eine steife Veranstaltung properer Herren in identischen Anzügen, Krawatten und Posen. Ihre Analyse reicht nicht weiter, als dass es ein sehr spannendes Spiel gewesen sei, das die Seleçao an diesem Freitagabend gewonnen habe. Dutzendfach wird wiederholt, was jeder schon weiß.

Dann die Schalte zum Reporter nach Cuiabá, hinter dem ein Fan steht und ruft: „Brasilien wird diesen ganzen Mist gegen Deutschland verlieren.“ Moderator Bueno ist aufgebracht: „Da steht ein Idiot und redet einen Haufen Unsinn. Warum bleibt der nicht zu Hause. Das passt hier nicht hin.“ Ronaldo fügt an: „Muss deutsche Vorfahren haben.“ Die ganze Spießigkeit eines Senders wird offenbar, der seit 30 Jahren ein Quasi-Monopol in Brasilien hat und keine Konkurrenz fürchten muss. Die Reaktion typisch für die Berichterstattung des gesamten brasilianischen Fernsehens über die Fußball-WM. Es werden keine Misstöne geduldet.

All das, was viele Brasilianer seit Monaten wütend gemacht hatte, existiert nicht mehr

Mit dem Anpfiff zur Weltmeisterschaft am 12. Juni wurde der Schalter umgelegt, vergessen die Korruption, die halb fertigen Infrastrukturprojekte, die Verzögerungen beim Stadionbau, fehlende Hospitäler, kaputte Schulen, überfüllte Busse. All das, was viele Brasilianer seit Monaten wütend gemacht hatte, existiert nicht mehr. Zumindest nicht im Fernsehen.

Beim Globo-Netzwerk – es besitzt oder ist assoziiert mit weltweit 380 Sendern, in Brasilien erreicht es 99,5 Prozent aller Haushalte – aber auch bei den kleineren Sendestationen geht es nur noch um: Fußball, Nationalspieler, Fouls, Paraden, Tore. Einzelne Spieler wie etwa Torhüter Júlio César werden in den Rang von Halbgöttern erhoben. Noch Tage vor der WM hatte man ihn als Schwachstelle des Teams identifiziert. Ebenso wurde Thiago Silva nach dem 1:0 gegen Kolumbien verziehen. Kurz zuvor hatte man seine Weigerung kritisiert, im Elfmeterschießen gegen Chile anzutreten.

Globo TV zeigt alle 64 WM-Spiele. Der Sender wird in Brasilien nicht umsonst „Herr des Fußballs“ genannt, er bestimmt sogar die Anpfiffzeiten der hiesigen Ligaspiele mit, hat einen privilegierten Zugang zur Nationalmannschaft und profitiert kräftig an der Copa durch gestiegene Werbeeinnahmen.

Ein „absichtliches Attentat gegen den Fußball“

Der große Aufreger vor dem Deutschlandspiel ist nun der gebrochene Rückenwirbel von Neymar. Das brutale Foul von Juan Zúñiga am brasilianischen Superstar läuft in Endlosschleifen. Der Kolumbianer gibt einen hervorragenden Bösewicht ab. Ihm wird ein „absichtliches Attentat gegen den Fußball“ vorgeworfen – die vielen ungeahndeten Fouls von David Luiz an Kolumbiens Stürmer James Rodríguez ignoriert man. Es würde nicht zum Patriotismus passen. Im Internet wird eine bekannte Schauspielerin dafür kritisiert, dass sie auf einem Instagram-Foto lächelt – obwohl Neymar verletzt ist.

Schon seit Wochen versuchen die Sender wie die Werbetreibenden ein kollektives „Wir“ zu schaffen, das es in Brasilien nicht gibt. Um die brasilianische Mannschaft wird ein Drama herum aufgebaut: Ist das Team fähig, sich selbst zu übertreffen und Deutschland zu schlagen? In der Seleçao versichert sich eine TV-Nation ihrer selbst. Sie ist der gemeinsame Nenner. Das Fernsehen rechnet dies täglich vor, indem es nur Oberflächen abbildet.

Die WM hat Brasiliens stockkonservative Massenmedien in eine Zwickmühle gebracht

Wie weit man sich dabei von der Wirklichkeit entfernt hat, wurde deutlich, als sich Globos Moderator Bueno in einem Spiel über Brasiliens Mannschaftsarzt empörte, der zu lang gebraucht habe, um einen verletzten Spieler zu behandeln. Daraufhin kursierten Fotos auf Facebook von überfüllten Wartesälen in brasilianischen Krankenhäusern, unterlegt mit Galvaos Kommentar.

Die WM hat Brasiliens stockkonservative Massenmedien in eine Zwickmühle gebracht. Im Oktober sind Wahlen, und man möchte eigentlich schlechte Stimmung schaffen, um die Wiederwahl von Präsidentin Dilma Rousseff zu erschweren. Gleichzeitig findet eine Fußball-WM im eigenen Land statt, die Aufmerksamkeit und Werbeeinnahmen garantiert. Vom Chaos, vor dem man kurz zuvor noch gewarnt hatte, ist keine Rede mehr. Vielleicht schlägt die Stimmung wieder um, sollte Brasilien am heutigen Dienstag gegen Deutschland verlieren. Philipp Lichterbeck

„Fußball-Weltmeisterschaft: Halbfinale Brasilien - Deutschland“, ZDF, Dienstag, 22 Uhr

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