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Der NSU-Prozess ist ein großes Thema für die Türkei.

© Sabah

Besuch in türkischer Europa-Redaktion: Die "Sabah" und der NSU-Prozess

Wir haben gewonnen, titelte am Samstag die türkische Zeitung „Sabah“. Ausgerechnet beim NSU-Prozess sollten Journalisten aus der Türkei nicht dabei sein. Ihre Beschwerde beim Verfassungsgericht in Karlsruhe hat Erfolg gehabt. Ein Besuch in der Europa-Redaktion.

Zur Not werde er vor dem Oberlandesgericht (OLG) München campieren, hatte Ismail Erel gesagt. Er meinte das als Scherz. Das Gericht verschickte daraufhin die Mitteilung, dass das „Lagern und Campieren auf dem Gelände des Strafjustizzentrums“ verboten sei. Auch Feuer zu machen, sei nicht erlaubt. Ob sich das Gericht dabei etwas gedacht hat?

Seit Tagen war es schon weltweit in den Schlagzeilen, weil ausgerechnet beim Prozess gegen die mutmaßliche Rechtsterroristin Beate Zschäpe und vier Unterstützer des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU), der Organisation also, die für den Mord an acht Türken, einem Griechen und einer deutschen Polizistin verantwortlich sein soll, keine türkischen Medien dabei sein sollten. Sie hätten sich nicht rechtzeitig angemeldet, begründete das OLG. Vorschrift ist Vorschrift.

Das konnte und wollte Ismail Erel, 41 und stellvertretender Chefredakteur der Europa-Ausgabe der türkischen Zeitung „Sabah“, nicht akzeptieren. Er reichte Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein. „Was wäre passiert, wenn weder die ARD noch die ,Bild‘ unter den ersten 50 Anmeldungen gewesen wären? Hätten auch sie erst vors Bundesverfassungsgericht ziehen müssen?“, fragt Erel Mitte der Woche an seinem Schreibtisch sitzend. Da steht das Urteil aus Karlsruhe noch aus. Er stellt die Frage nicht trotzig oder beleidigt, sondern wie ein Mensch, der nach einer Antwort sucht für etwas, das er nicht verstehen kann. Er schreibt an diesem Tag über ein Neonazi-Netzwerk, das aus einem hessischen Gefängnis heraus Kontakt zu Zschäpe hatte aufnehmen wollen. Neben Erels Bildschirm steht ein Glas mit türkischem Tee. Vom Fenster aus sieht er Flugzeuge in den Himmel steigen, an der Wand hängt das Bild von Atatürk, dem Begründer der modernen Türkei. Erel hat ihn quasi immer im Nacken, wenn er an seinem Schreibtisch sitzt.

Etwa 60 000 Menschen erreicht die „Sabah“ nach eigenen Abgaben täglich in Deutschland, 450 000 Exemplare verkaufe sie pro Tag in der Türkei. Und dort finden es die Leser merkwürdig, was hier in Deutschland passiert. „Das muss man sich auch erst mal vorstellen: Da werden deutschlandweit acht Türken erschossen. Da wird jahrelang suggeriert, dass sie selber schuld sind, weil sie in kriminelle Milieus verstrickt waren. Dann kommt heraus, dass sie von einer rechtsradikalen Terrorgruppe ermordet wurden. Und dann werden die türkischen Medien nicht zum Prozess zugelassen“, sagt Erel. Er kann die Empörung gut übersetzen, die das Verfahren des OLG ausgelöst hat.

50 Sitzplätze hatte das Münchner Gericht an Journalisten zu vergeben für den Prozess, der am Mittwoch beginnen soll. Sie gingen an diejenigen, die sich am schnellsten zurückgemeldet hatten. Um 8.56 Uhr ging die Mail raus. Innerhalb von drei Stunden waren alle Plätze vergeben. Erel landete auf Platz 75, denn davon, dass er sich beeilen musste, wusste er nichts. Offensichtlich so wenig, wie andere türkische und internationale Medien auch. Die Nachrichtenagentur Cihan landete auf Platz 62, die „Hürriyet“ auf Platz 68, zu spät kamen ebenso die US-Zeitung „New York Times“ und der britische TV-Sender BBC. Viele deutsche Medien zeigten sich solidarisch mit den türkischen Kollegen. Sie boten an, ihre Plätze für türkische Journalisten freizumachen – aber einen solchen Tausch erlaubte das OLG nicht. Vorschrift ist Vorschrift.

Das Bundesverfassungsgericht aber gab am Freitagabend nun der „Sabah“ recht, zumindest in Teilen. Türkische Medienvertreter könnten „ein besonderes Interesse an einer vollumfänglich eigenständigen Berichterstattung über diesen Prozess geltend machen“, heißt es in dem Beschluss, „da zahlreiche Opfer der angeklagten Taten türkischer Herkunft sind“. Mindestens drei Plätze muss das OLG München demnach an Journalisten türkischer Medien vergeben oder ein ganz neues Akkreditierungsverfahren beginnen. Doch am Ende geht es um mehr als ein paar Stühle.

In Deutschland wird die Zeitung als eine Art Anwalt gesehen

Nicht lockergelassen. Ismail Erel und Mikdat Karaalioglu (v. l.) berichten als Chefs der europäischen „Sabah“ seit Jahren über die NSU-Morde.
Nicht lockergelassen. Ismail Erel und Mikdat Karaalioglu (v. l.) berichten als Chefs der europäischen „Sabah“ seit Jahren über die NSU-Morde.

© Sabah

„Wir haben die historische Klage gewonnen“, jubelte die „Sabah“ am Samstag auf Seite eins ihrer Europa-Ausgabe. Der Titel zeigt, welche Symbolik das Urteil hat. Eine türkische Zeitung, die sich Gerechtigkeit im deutschen Rechtstaat erkämpft hat.

Ihren Sitz hat die Europa-Redaktion der „Sabah“ in Mörfelden-Walldorf, in einem kleinen Ort mit einem großen Vorteil: keine 13 Kilometer sind es bis zum Flughafen Frankfurt, weshalb hier eine Art Fleet Street der türkischen Medien in Deutschland entstanden ist. In den 70er Jahren, als viele Türken nach Deutschland kamen, war Frankfurt die Stadt mit dem einzigen Flughafen, der täglich von Maschinen aus Istanbul angeflogen wurde. Weil die Türken in Deutschland nicht auf ihre Heimatzeitung verzichten wollten, brachten Mitarbeiter die Druckfahnen der Ausgabe, die an dem jeweiligen Tag in der Türkei erschienen war, nach Frankfurt. Mit jeweils einem Tag Verspätung konnten die Türken dann Nachrichten aus der Heimat lesen.

Mit dem Internet hat sich die Pendelei längst erübrigt, doch sind die Zeitungen in Walldorf-Mörfelden geblieben, wo es die Druckereien gibt. Neben der „Sabah“ haben hier auch die Europa-Redaktionen der „Zaman“ und „Türkiye“ ihre Büros, die Redaktion der „Hürriyet“ arbeitet bis Ende März hier. Aus Kostengründen wird deren Europa-Ausgabe jetzt in Istanbul produziert, gedruckt aber weiterhin in Mörfelden-Walldorf.

In einem roten Backsteinhaus im Industriegebiet arbeitet die „Sabah“. Wer in der vierten Etage aus dem Fahrstuhl steigt, sieht als Erstes zwei Wimpel: einen türkischen und einen deutschen, so eng nebeneinandergestellt. Sechs Redakteure produzieren täglich, auch samstags und sonntags, den Europa-Teil, der vier der insgesamt 24 Seiten starken „Sabah“ umfasst. Die Zeitung gilt in der Türkei als regierungsnah, weil sie zum Calik-Konzern gehört, der von einem Schwiegersohn des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan geleitet wird. Erel bestreitet die Nähe. Die „Sabah“ sei eine liberale und pluralistische Zeitung, sagt er.

Von vielen Lesern in Deutschland wird die Zeitung vor allem als eine Art Anwalt gesehen. Haben Türken Probleme bei Behörden, rufen sie bei der „Sabah“ an. Erst neulich wieder, erzählt Mikdat Karaalioglu, 43, der Geschäftsführer und Chefredakteur der „Sabah“ hierzulande ist und dessen Büro ein paar Schritte von Erels entfernt liegt, auch an seiner Wand hängt ein Bild von Atatürk im feinen Zwirn. Das Jugendamt hatte Kinder aus einer Kölner Familie genommen, fährt er fort, weil die Eltern offensichtlich überfordert waren. Die empörten Eltern hätten sich bei der „Sabah“ gemeldet, sie fühlten sich als Opfer deutscher Behördenwillkür. Die „Sabah“-Redakteure recherchierten die Geschichte, sie sprachen mit der Familie, mit dem Jugendamt. Sie sahen Bilder aus der Wohnung der Familie. „Das waren für Kinder unzumutbare Zustände. Da hatte das Jugendamt völlig richtig gehandelt“, sagt Karaalioglu. Entsprechend habe die „Sabah“ auch berichtet. Doch bewegt er sich mit der Zeitung immer wieder im Spannungsverhältnis zwischen Lebenswirklichkeit und den Ängsten seiner Leser.

Einmal hat er deshalb beinahe seinen Job verloren. Anfang 2008, als in Ludwigshafen ein Haus brannte. Neun Menschen kamen ums Leben, ausschließlich Türken und türkischstämmige Deutsche. „Wieder haben sie uns verbrannt“, habe die „Hürriyet“ damals getitelt, erinnert sich Karaalioglu. Dabei war gerade erst begonnen worden, nach der Brandursache zu forschen. Er war vorsichtiger: „Mein Gott, was für ein Leiden“, habe er als Überschrift gewählt und damit offen gelassen, ob es Brandtstiftung war oder nicht. Die „Hürriyet“ sei fast ausverkauft gewesen, die „Sabah“ nicht – und sein Chefredakteur in Istanbul so sauer, dass er lieber einen Redakteur aus der Türkei nach Ludwigshafen schickte, weil er an Karaalioglus Kompetenz gezweifelt habe, erzählt der. Am Ende schlossen die Ermittler aus, dass es sich um einen Brandanschlag mit ausländerfeindlichem Hintergrund gehandelt habe. Karaalioglu behielt seinen Job.

Jeder Hausbrand in Deutschland erinnert an Mölln und Solingen

Tief sitzen die Erinnerungen an Mölln und Solingen. Bei jedem Hausbrand in Deutschland werden sie wieder wach, sagt Karaalioglu, so auch nach den jüngsten Bränden in Backnang und Köln. „Viele Türken haben die Empfindung, dass deutsche Behörden versuchen, rechtsextremistische Straftaten zu vertuschen.“ Dass nun ausgerechnet türkische Medien nicht die Möglichkeit bekommen sollten, über den NSU-Prozess zu berichten, habe das Misstrauen nur noch verstärkt.

Fast täglich berichtete die „Sabah“ in den vergangenen Wochen über den NSU-Prozess. Auch am Donnerstag vor dem Urteil in Karlsruhe wird in der morgendlichen Redaktionskonferenz darüber diskutiert, die Redakteure sprechen türkisch, doch fallen zwischendurch immer wieder deutsche Begriffe – es sind nicht die schönsten: „Auftragsmord“ beispielsweise, „Neonazis“.

„Mir kommen diese Worte auf Deutsch viel schneller in den Sinn“, sagt Erel, der in der türkischen Stadt Bursa geboren wurde, im Alter von eineinhalb Jahren mit seinen Eltern nach Sinzig am Rhein kam und später Germanistik studierte.

Seitdem der Blumenhändler Enver Simsek am 9. September 2000 in Nürnberg als erstes Opfer der NSU-Mörder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt erschossen wurde, hat er über die Mordfälle berichtet. Erst für die „Hürriyet“, dann für die „Sabah“ und wie fast alle Journalisten in dem Glauben, dass die Taten keinen rechtsterroristischen Hintergrund haben. „Ich hab den deutschen Behörden, dem deutschen Verfassungsschutz vertraut“, sagt der Journalist.

So wie er jetzt auch dem OLG München vertraut habe, ihm rechtzeitig Bescheid zu sagen, wann und wie das Anmeldeverfahren für den Prozess ablaufen wird. Mehrfach habe er in München angerufen, er werde die Informationen rechtzeitig erhalten, hieß es. Erel bekam die Mail um 9.15 Uhr, mehr als eine Viertelstunde später als alle anderen Journalisten. Den Fehler hat das OLG inzwischen zugegeben. Aber die 15 Minuten wären nicht entscheidend gewesen. Erel hatte an dem Tag frei, er wusste nicht, dass es um Sekunden gehen würde. Erneut hatte er falsch gelegen mit seinem Vertrauen – nur konnte er dieses Mal handeln.

„Wenn ich es einem gönne, dann ist es Ismail“, sagt Karaalioglu. „Jahrelang hat er die Akten zu den Morden gewälzt. Der hat uns manchmal echt mit dem Thema genervt.“ Erel ist am Freitagabend erleichtert. „Das Urteil aus Karlsruhe lässt keinen Zweifel daran, dass das Oberlandesgericht falsch gelegen hat“, sagte er am Telefon. Zwar gibt es damit noch keine Garantie dafür, dass er einen Platz im Gerichtssaal bekommt, aber Erel ist zuversichtlich. „Es wäre sehr schade, wenn ausgerechnet wir, die wir das Urteil erwirkt haben, nicht dabei wären. Das OLG wird hier sicher eine gute Lösung finden.“

Erel wird am Mittwoch in München sein. Er wird über den Prozess berichten. Tausende Türken werden es lesen.

Der Text ist auf der Reportage-Seite erschienen.

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