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Wir sind anders. Das Gegenstück zum Kapitalisten-Blatt „Wall Street Journal“.

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Bewegung: Es ist eng, es ist einfach, es ist funky

Wie und warum funktioniert „The Occupied Wall Street Journal“? / Von Chefredakteur Michael Levitin

Wir stehen vor der Gewerkschaftsdruckerei in Queens und nehmen hunderte Papierstapel in Empfang. Wir wuchten sie in Lieferwagen, in Taxis, auf Fahrradanhänger oder was sich gerade als Transportmittel anbietet. Mit jedem Bündel werden unsere Finger schwärzer von Druckertinte. Wir rasen durch die Straßen Manhattans und stoppen am Liberty Park. Wir laden die Bündel mit je hundert Ausgaben unserer Zeitung aus. Sie werden von Freiwilligen ergriffen, die sie weitertransportieren und verteilen. Es ist fantastisch, Handarbeit im digitalen Zeitalter. Schuld daran ist eine kleine, vierseitige Zeitung: das „Occupied Wall Street Journal“, kurz „OWSJ“.

Mitte September gingen in New York einige hundert Menschen gegen die Macht der Finanzmärkte auf die Straße. Schnell bekamen die Demonstranten Zulauf, es entstand eine Massenbewegung, die täglich wächst. Sie nennt sich „Occupy Wall Street“ oder auch „Bewegung der 99 Prozent“. Seit dem Beginn der Proteste hält sie den New Yorker Liberty Park besetzt, der zu einer Art Hauptquartier geworden ist. Wie schon zuvor in Tunesien, Ägypten oder Spanien wird auch in Manhattan ununterbrochen gebloggt und getwittert, wird auf Facebook gepostet, werden aktuelle Ereignisse per Livestream ins Netz übertragen. Da waren viele natürlich baff, als sie am 1. Oktober die erste Ausgabe des „OWSJ“ in die Hand gedrückt bekamen. Worte auf Papier? Wie altmodisch. Tatsächlich schien die Bewegung genau darauf gewartet zu haben.

Als wir vor zwei Wochen die ersten 50 000 Exemplare ausluden, schwärmten kleine Teams aus, um die großformatige Zeitung in New York zu verteilen. Innerhalb weniger Tage konnte man sie in den Händen der verschiedensten Menschen sehen. Sie wurde in der Metro gelesen, in den Cafés, in den Parks. Viele New Yorker kamen nicht zum Liberty Park, aber der Liberty Park kam mit dem „Occupied Wall Street Journal“ zu ihnen. Wir erzählten ihnen die bewegende Geschichte eines jungen Mannes, der sich auf den Weg zu seinen Eltern in eine Kleinstadt in Wisconsin macht. Sie sollen aus dem Haus geworfen werden, das der Familie seit hundert Jahren gehört. Nun war es in den Besitz der Bank of America geraten. Wir druckten farbige Fotos von Leuten, die ihre selbstgebastelten Schilder zeigen. Wir hatten eine Reportage von den Protesten in Griechenland und gaben den Leuten Tipps, wenn sie zum Park kommen wollten: „Regensachen nicht vergessen“.

Michael Levitin ist Chefredakteur des "Occupied Wall Street Journal".
Michael Levitin ist Chefredakteur des "Occupied Wall Street Journal".

© Robert Leslie

Der Bewegung verlieh die Zeitung neuen Auftrieb. Plötzlich war da etwas, das man anfassen konnte, ein Dokument des Aufstands, das zusätzliche Legitimation bedeutete. Damit kein Missverständnis aufkommt: „The Occupied Wall Street Journal“ ist nicht das offizielle Organ der Besetzer. Wir sind nicht die „Prawda“ der 99 Prozent. Statt dessen will die Zeitung das Mikrofon der vielen Menschen sein, die ein anderes Amerika fordern. Darin haben die Massenmedien grandios versagt.

Am Anfang dachten wir, dass die Finanzierung der Gratis-Zeitung ein riesiges Problem sein würde. Wir stellten eine Anfrage auf der Spendenseite www.kickstarter.com ein. Wir baten um 12 000 Dollar, um vier Ausgaben drucken zu  können. Innerhalb von 24 Stunden war das Geld da. Als die Spendenperiode nach einer Woche endete, waren 75 000 Dollar zusammengekommen.

Unsere erste Nummer war schnell verteilt, und es ging eine zweite Ausgabe mit einer Auflage von 20 000 Stück in Druck. Es folgte eine Ausgabe in Spanisch, ebenfalls 20 000 Exemplare. Dann erschien unsere nächste Nummer, Auflage: 50 000. Auf der Titelseite ein Beitrag der Globalisierungskritikern Naomi Klein. Sie hatte zuvor im Liberty Park gesprochen, aber ihre Worte durften nicht per Lautsprecher verstärkt werden – eine der vielen Auflagen der Stadt. Vielleicht erklärt sich so, dass die Auflage sofort vergriffen war. Also bestellten wir noch einmal 50 000. Nun arbeiten wir an einer nationalen Ausgabe mit Berichten aus allen großen Städten der USA. Freie Korrespondenten schicken uns depeschenartige Berichte. Wir rechnen mit einer Auflage von 250 000 Stück.

Unser Büro ist ein kleiner Raum in Grenwich Village, zwei Kilometer nördlich vom Liberty Park. Wir haben zwei Schreibtische, alte Stühle, Laptops und einen großen Mac fürs Layout. Die Farbe blättert, die Rohre sind rostig und wir hören das Rauschen des Verkehrs der vielbefahrenen West Street. Wie in einem schlechten Hollywood-Film hängt ein Poster von Che Guevara an der Wand. Mittags bestellen wir Reis, Bohnen, Frikadellen und Bier bei einem puerto-ricanischen Markt um die Ecke. Wir rauchen alle und zwar viel. Es ist eng, es ist einfach, es ist funky.

Ich wurde Chefredakteur des „OWSJ“, weil ich in der Nacht vor dem ersten Redaktionsschluss im Büro vorbeischaute. Ich half bis zum Sonnenaufgang bei der Produktion und arbeitete nach drei Stunden Schlaf bis 19 Uhr mit einem kleinen Team weiter. Keiner von uns verdient Geld. Unser Lohn ist, dass diese Arbeit unsere Leben bereichert. Die Konflikte sollen nicht verschwiegen werden. Die Produktion einer Zeitung hat immer etwas Exklusives, weil sie eine Handvoll Leute involviert, die entscheiden, welche Artikel gedruckt werden und welche nicht.

Damit begeben wir uns in einen Widerspruch zur Straße. Wir können nicht alle Stimmen wiedergeben, obwohl sich die Bewegung genau darum dreht. Aber wir versuchen, einen bunten Strauß zusammenzustellen: Ein Student berichtet über den Uni-Streik, eine Frau über die Beteiligung von Afroamerikanern, ein anderer über die Sicherheit im Liberty Park. Trotz aller Basisdemokratie gibtes ein dreiköpfiges Führungsteam beim „OWSJ“, zu dem auch ich gehöre.

Wir alle haben den Journalismus in dem Glauben erlernt, dass wir eines Tages in den Massenmedien ein paar Dollars verdienen werden. Nun haben wir zum ersten Mal das Gefühl, dass unsere Arbeit sinnvoll ist, dass wir wirklich der Gesellschaft dienen. Wir sind todmüde, aber keiner von uns war als Journalist jemals so glücklich wie in diesen Tagen.

Übersetzung: Philipp Lichterbeck

Michael Levitin, 35, ist der Chefredakteur des „Occupied Wall Street Journal“. Er hat für AP, „Newsweek“, „Los Angeles Times“ und den „Daily Telegraph" berichtet, auch aus Berlin.

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