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Medien: "Big Brother": Die Welt als Bordell

Diesmal liegen die Karten offen auf dem Tisch. Beim zweiten Versuch der am vergangenen Wochenende gestarteten RTL-Show "Big Brother" geht es nur noch um das Eine: Wer mit wem - und wann?

Diesmal liegen die Karten offen auf dem Tisch. Beim zweiten Versuch der am vergangenen Wochenende gestarteten RTL-Show "Big Brother" geht es nur noch um das Eine: Wer mit wem - und wann? Die Kulturkritik schweigt bisher beschämt (oder desinteressiert) und überlässt das Feld zunächst der Unterhaltungsindustrie, vor allem der Boulevardpresse. Und "Bild" präsentiert eine der Mitspielerinnen im "BB"-Container auf der Titelseite: als Stripperin irgendwo in der Provinz, dazu hat das Blatt den "Big Brother"-Schriftzug demonstrativ über die bloße Scham kopiert, mit der Aufforderungsfrage, ob "wir dich" im Fernsehen "genauso nackt wie hier" sehen werden. Keine Sorge.

Andere Gazetten, da sind wir schon bei den aktuellen "BB"-Bildern, halten auf jede offene Bluse oder Hose im Container, schon das Unterschwellige gilt der offenkundigen Erwartung als obergeil. Niemand diskutiert bei dieser als "Kult" verkauften Veranstaltung noch ernstlich, was vor einem halben Jahr, bei Beginn von "Big Brother" in Deutschland, die Gemüter bewegte: ob das Zusammensperren von zehn oder zwölf einander unbekannten Personen zu einer Tag und Nacht von Kameras beobachteten Container-WG als Menschen- und Medienexperiment nun einen gefährlichen Abgrund, eine öde Untiefe oder einen unterhaltsamen Gipfel der Television darstelle; ob das gefilmte Leben der Laien nur inszenierte "Reality" oder ein Stück neuen Medien-Alltags bedeute; ob der plebiszitär bestimmte und publizistisch aufgeheizte Ausscheidungskampf um den Verbleib im Container und die finale 250 000-Mark-Prämie nicht einer Spielart öffentlicher Selektion entspreche.

"Big Brother" ist nicht von Orwell und macht keinen Staat, die Show hat das Leben der Republik nicht erschüttert. So wenig wie in neun anderen Ländern. Und doch markiert die zweite Folge mitsamt der öffentlichen Begleitmusik und den vom Sender geschürten Erwartungen eine Zäsur. Dass Unterhaltung in einem visuellen Medium etwas mit Voyeurismus zu tun hat, ist dabei das Geringste, Normalste. Wir alle sind gerne Betrachter, wenn uns etwas neugierig macht. Und in einem Medium, in einem Spiel auf offener Bühne gehört auch immer ein Stück Preisgabe, Ausstellung, also persönlicher Exhibition dazu. Hier aber geht es auch: um Prostitution.

Das sogenannte wahre Leben, vorgestellt von gewöhnlichen Mitmenschen, ist für den Betrachter draußen leider meist langweilig. Deshalb gibt es Schriftsteller, Künstler, Filmemacher, die das Alltägliche, Allzumenschliche verdichten, steigern, bezaubern oder neu erfinden. Deshalb haben wir das Theater, die Literatur, den Film. Aber ein netter Kumpel wie der Zlatko von nebenan oder irgendeine Verena oder ein Jürgen, selbst wenn man sie von Köln-Hürth aus marktschreierisch zu "Stars" emporjubeln möchte, vertreiben nicht 100 Tage Dämlichkeit; ihr x-beliebiges Wohnküchengelabere kann niemanden "wirklich" interessieren. Die Produzenten bauten bei Beginn der Sendung allein auf den Mythos Fernsehen, der seinerseits auch aus der Banalitäten der Blechheimer noch "Mythen des Alltags" (Roland Barthes) machen sollte.

Doch die Zuschauerzahlen sanken nach dem Anfangsbohei. Was in Holland, wo "Big Brother" erfunden wurde und wo der Nachbar dem Nachbarn durchs gardinenlose Fenster schaut, funktionierte, drohte in Deutschland alsbald zur Pleite zu werden. Daraufhin wurde bei "BB 1" immer offener in die angebliche Abgeschlossenheit der Laienspieler hineininszeniert, wurden eine sehr blonde Sabrina und kurzfristig auch die bekannte Verona hinzu geladen. Es sollte mehr Sex in die Hütte.

Hierauf wird jetzt von Anfang an gesetzt. Nichts hat das mit jenem grausamen, schönen, erschreckenden Experiment zu tun, das im Rokoko der Dramatiker Marivaux ersann, als er eine höfische Gesellschaft heimlich das Erwachen der Triebe und Liebe von vier jungen Menschen beobachten ließ, die man, von ihren Familien und jeglicher Außenwelt isoliert, gleichsam im "Naturzustand" aufwachsen ließ. Im Container, aus 58 Positionen rund um die Uhr gefilmt, ist Verliebtheit nicht möglich und selbst Geilheit nicht leicht.

Die Geilheit wartet draußen. "Big Brother", das hat die Boulevardpresse längst gewittert und als Losung ausgegeben, hat für den quotenscharfen Sender diesmal nur eine Chance, Wirbel zu machen: wenn es irgendwann zum Geschlechtsverkehr kommt. Das ist zwar ordinär und scheint zugleich läppisch, da ein Großteil des angepeilten Publikums sich jederzeit härterer, offener Pornographie in Videotheken, Sexshops oder auch im Internet bedienen könnte. Aber es geht hier um einen Kern des "Reality TV". Seit mit der Video- und neuerdings auch der Digitaltechnik die Wirklichkeit, sprich alle Welt an fast jedem Ort zu jeder Zeit, verfügbar ist, schlägt diese Omnipräsenz der Medien immer wieder auch um in eine Omnipotenz. Mit dem Wahn und der Gier, alles Menschenmögliche zu zeigen: Echtleid in Echtzeit, reale Lüste, Helden wie wir, das Opfer vor der Tür.

Anfang der neunziger Jahre rollte die erste Welle unterm Signum "Reality TV" durch die deutschen (Privat-)Sender. Das waren keine harmlosen Späße mehr, nichts von "Versteckter Kamera". Es ging um tägliche Verhängnisse, um Häuserbrände, Selbstmörder, Verkehrsunglücke, und plötzlich waren auch Sanitäter, Feuerwehrleute und Katastrophenhelfer mit Kameras ausgerüstet, und bei den damals beliebten "Lebensretter"-Videos lieferte der Anblick fremder, gefilmter Todesangst die moralisch getarnte Augenweide. Der Zuschauer war dabei gewesen und trotzdem selber drumherum gekommen. Derlei Erleichterung, um die sich damals schon vornehmlich RTL bemühte, wurde allerdings mitunter so zur Beklemmung, dass die Werbekunschaft ungern in die Nähe solcher Schreckens- oder Schmuddelszenarien geraten wollte. Mitte der Neunziger brach darum die Welle.

"Reality TV" als infotainment lebt von der Enthüllung des Schreckens und der Lust. Vorm Schlüsselloch lauert der Betrachter auf Sex und Crime, oft auch auf schiere Gewalt. So bemühen sich in den USA seit Jahren schon Sender um Lizenzen, Hinrichtungen "live" aus Amerikas Gaskammern und vom Elektrischen Stuhl zu übertragen. Bereits jetzt gibt es auf einem US-Kanal Polizeivideos: mit den Originalverhören und entsprechenden Aussagen von Schwerverbrechern, vornehmlich Lustmördern.

Mit guten Gründen und ohne unziemliche Einschränkung der Medienfreiheit gibt es in Deutschland weiterhin das Verbot, Gerichtsverhandlungen zu filmen oder im Fernsehen und radio zu übertragen. Die Schau-Prozesse als moderne Volksbelustigung bleiben auf die mediale Vermarktung der Privatsphäre beschränkt. Hier haben unsere Mitmenschen in Talkshows, auf dem elektronischen Stuhl, nun längst schon ihre intimsten, abstrusesten, peinlichsten Obsessionen enthüllt. Nur Jedermanns Sex im Bild, in authentischer Aktion ist trotz ständig steigender Reizschwellen noch halbwegs ein Tabu. Noch existieren Restrestriktionen des Jungendschutzes und der Rechtsaufsicht durch die Landesmedienanstalten. Auch dagegen opponieren die Privatsender, und soweit man nicht auf Porno-Kabelnetze erpicht ist, reitet man "Reality TV", als die sich auch "Big Brother" versteht, wie ein Trojanisches Pferd. Schon wirbt RTL auf Plakaten für das eigene "BB"-Konkurrenzprodukt "Robinson" mit entblößten Genitalien. Das erschüttert uns nicht. Doch sind die Quotendoper hier nichts Besseres mehr als mediale Zuhälter. Und eine Gesellschaft, die alles für Geld verfügbar und enthüllbar macht, steht am Ende auch nur nackt da und arm. Nicht erotisch, bloß neurotisch.

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