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Medien: Brücke über die Zeit

Die ARD lässt im Zweiteiler „Sterben an der Ostfront“ die letzten russischen Zeitzeugen zu Wort kommen

Das sind doch nur Attrappen!, sagte Göring zu Hitler über die russischen Flugzeuge an der Weichsel. Die Rote Armee hatte die acht- bis zwanzigfache Überlegenheit, als sie im Januar an dem Fluss stand und zum letzten großen Angriff auf Deutschland ansetzte. Hitler glaubte nicht an die Offensive, hatte er doch selber kürzlich eine begonnen – im Westen.

Die letzten Tage und Monate des zweiten Weltkrieges sind oft dokumentiert worden. Dass es die ARD erneut unternimmt, mag damit zu tun haben, dass man letzte Beteiligte heute noch interviewen kann, bald nicht mehr. Antony Beevor, Mitarbeiter des Zweiteilers, traf im vergangenen Jahr mit seinem Buch „Berlin 1945. Das Ende“ auf unvermindertes Interesse. Er nutzte erstmals bislang unzugängliche russische Quellen, die nun auch dem Film einen neuen Blick gestatten: den auf das Innenleben einer Sieger-Armee.

Thema des Films ist nur indirekt, was die Deutschen in Russland getan haben. Gen Osten war der deutsche Krieg ein Vernichtungsfeldzug gewesen. Aber was kann das Wort Verbrechen noch bedeuten, wenn die Vernichtung, die man hinaustrug, nun zurückkehrte? Es ist schwer, hier eine Balance zu finden – dem Autor und Regisseur Sven Ihden ist es wohl gelungen. Auch und gerade dank der russischen Zeugen, die er fand.

Michel Tuljakow, Miltärarzt. Mit 17 hatte er sich freiwillig gemeldet und seit Stalingrad den ganzen Krieg erlebt. Wassili Jaramenko, der sich freiwillig zum politischen Kommissar ausbilden ließ, nachdem er beide Brüder verloren hatte. Jelena Rschewskaja, Militärdolmetscherin im Stab der 3. Stoßarmee oder Wladimir Schafir, Militärstaatsanwalt. Welche Menschlichkeit will man erwarten von meist blutjungen Soldaten, die zu Überlebensmaschinen geworden sind? Und dann sahen diese Soldaten in den verlassenen, fast unzerstörten deutschen Dörfern Indizien eines nie für möglich gehaltenen Wohlstands. Sie fragten: „Was zum Teufel wollten die bei uns? In uns stieg die Wut hoch …“ – Sinnlose Zerstörung war die Antwort. Sven Ihden glaubt, das Motiv Rache allein erklärt nicht, was beim Vormarsch der Roten Armee geschah. Schon Antony Beevor hatte in der Disziplinlosigkeit in der Roten Armee ein erstaunliches Phänomen erkannt. Moskau wusste von den Übergriffen seiner Armee auf die Zivilbevölkerung, auch von den Massenvergewaltigungen – und schritt nicht dagegen ein. Für das sowjetische Deutschlandbild sorgte Oberpropagandist Ilja Ehrenburg; seine Hasstiraden glichen auf frappierende, spiegelverkehrte Weise den deutschen Dämonisierungen der Russen. „Das Reich der faschistischen Bestie“, nannte er Deutschland. Wie verhält man sich gegenüber Bestien? Und Stalins Befehl Nr. 1 galt noch immer: Keinen Schritt zurück! Es braucht nicht viel Psychologie, um zu verstehen, wie sich ein unerträglicher, über Jahre aufgestauter Druck entlud, als sich die Zeichen des Sieges mehrten.

Die Zeitzeugen sprechen aus dem Bedürfnis zu verstehen – sich selber und diesen Sieg. Eigenwillig ist die Ästhetisierung der Porträtierten: die Aufnahme ihres Lidschlags in Zeitlupe. Als ob dieser Lidschlag ein historischer wäre. Brücke über die Zeit – mehr als ein Lidschlag ist kaum vergangen für alle, die das Grauen erlebten. Das Auge ohne Lidschlag wäre das Zeichen unlöschbaren Entsetzens.

„Sterben an der Ostfront“. Erster Teil 21 Uhr 45, ARD. Teil 2 am 29. September

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