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Neuer Dreh. Bei „The Voice of Germany“ dürfen die Juroren ihre Kandidaten erst sehen, nachdem sie sich für sie entschieden haben. Damit wird suggeriert, dass bloß die Stimme zählt. Nach sechs Sendungen ist die erste Castingphase jetzt abgeschlossen. Foto: Promo

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Castingshows: In der Kuschelzone

Die Quotensensation „The Voice of Germany“ bedient eine Sehnsucht. Und täuscht ihre Zuschauer. Auch hier werden Außenseiter vorgeführt - allerdings subtiler.

Freitagabend war wieder so ein „The Voice“-Moment. Natascha Bell, 22, stand auf der Bühne und sang permanent an den richtigen Tönen vorbei. Dieter Bohlen hätte sie dafür fertiggemacht. Hätte gepöbelt und ihr verboten, je wieder nach einem Mikro zu greifen. Vielleicht hätte Natascha geweint. In dieser Show passiert das nicht. Hier schwindelt der Juror: „So schief war das doch gar nicht.“ Schwupps ist Natascha eine Runde weiter.

„The Voice of Germany“ will anders sein als alle übrigen Castingshows. Vor allem anders als „Deutschland sucht den Superstar“ und das „Das Supertalent“, den beiden Bohlen-Formaten auf RTL, in denen schwache Leistungen verhöhnt, Außenseiter gezielt vorgeführt werden.

Nach sechs Sendungen – donnerstags auf ProSieben, freitags auf Sat 1 – und dem Abschluss der ersten Castingphase steht fest: „The Voice of Germany“ ist die Quotenüberraschung dieses Herbstes, erreicht annähernd jeden Dritten in der Zielgruppe zwischen 14 und 49 Jahren. Die Sendung bedient eine Sehnsucht. Draußen in der Wirklichkeit mag eine Krise der nächsten folgen, mag Europa am Abgrund stehen, mögen Nazi-Banden morden und Kriege Tote fordern. Im Studio von „The Voice“ sind alle nett zueinander. Willkommen in der Kuschelzone.

Eigentlich galt das Genre als auserzählt. 34 Staffeln „Superstar“, „Popstars“, „Supertalent“, „Star Search“, „Unser Star für Oslo“, „Beste Stimme“ und „X Factor“ haben alle denkbaren Kandidaten-Dramen – schwere Kindheit, Lampenfieber, Stimme weg – ausführlich beleuchtet. Vor allem aber hielten sie ihr Versprechen nicht, gute Popmusiker zu produzieren. Nicht mal eine Handvoll konnte sich anschließend länger als ein Jahr im Geschäft halten. Wer Glück hatte, fand Anschlussbeschäftigung beim „Perfekten Promidinner“ oder einer anderen Resteverwertung. Auch „The Voice“ gaukelt seinen Zuschauern vor, hier werde der nächste „Musikstar Deutschlands“ gesucht. Leider ist es nicht der einzige Täuschungsversuch.

Wie die neue Castingshow die Zuschauer gezielt täuscht.

Der dreisteste ist die penetrant wiederholte Behauptung, bei „The Voice“ zähle allein die Stimme der Kandidaten. Schließlich konnten die Coaches Nena, Xavier Naidoo, Rea Garvey und BossHoss in der ersten Runde wegen ihrer umgedrehten Jurysessel nicht sehen, wer gerade sang. Optik und Alter der Kandidaten seien also egal, heißt es. Das ist geschummelt. Es gab eine Vorauswahl, bei der selbstverständlich aufs Aussehen geachtet wurde. Die meisten Kandidaten, die es in die Show schafften, sind ganz offensichtlich kameratauglich. Bei den ganz wenigen, die aus dem Rahmen fallen, wird – und das ist wohl das Perfideste an diesem Konzept – stets hervorgehoben, dass diese Leute in jeder anderen Castingshow aussortiert worden wären. Weil sie zu dick, alt oder hässlich sind. Mit derselben Logik könnte einer behaupten, kein Rassist zu sein, weil er sogar mit Schwarzen spreche.

Die übergewichtige Nina aus Offenbach darf vor ihrem Auftritt erklären, warum sie so dermaßen aus der Form geraten ist (Hormonprobleme). Die 53-jährige Pamela – für Castingshow-Verhältnisse megaalt – filmen die Kameras zunächst konsequent von hinten oder auf die Füße, damit sich der Zuschauer ausmalen kann, wie abgewrackt die wohl aussieht. Doch, auch bei „The Voice“ werden Außenseiter vorgeführt, bloß eben etwas subtiler als beim „Supertalent“.

Das zweite große Täuschungsmanöver ist das Versprechen, bei dieser Show würden ausschließlich „Talente“ ans Mikro gelassen. Es suggeriert, bei den Kandidaten handele es sich um frische, unverbrauchte Amateure, die bloß auf eine niveauvolle Castingshow wie diese gewartet haben. Tatsächlich treten reihenweise Musical-Darsteller, Popsternchen der Neunziger und Gescheiterte aus anderen Castingshows an. Manche breiten in der Sendung bereitwillig ihre Vergangenheit aus. Andere verheimlichen das lieber.

Freitagabend versuchte es Stefan, ein Gesamtschullehrer aus Moers. Er behauptete, vor allem für seine Schüler zu singen und keinerlei Bühnenerfahrung zu besitzen. Noch in der Nacht wüteten Zuschauer im Internet: Der angebliche Show-Neuling war schon vor sieben Jahren bei „Popstars“ angetreten, erst am Ende der Staffel knapp gescheitert. Auf der Facebook-Seite des Lehrers findet man Bilder verschiedener Live-Auftritte. Zuschauer fordern, der Mann müsse umgehend disqualifiziert werden. Das wird nicht passieren: Die nächsten Etappen der Sendung sind bereits aufgezeichnet.

„The Voice“ zeigt aber auch einige überraschende Wahrheiten. Xavier Naidoo, bisweilen für seine schnulzigen Texte verspottet, entpuppt sich als kompetentes, gelassenes und extrem unterhaltsames Jury-Mitglied. Bei Nena dagegen verstärkt sich mit jeder  Folge der Eindruck, die Achtziger-Ikone habe sich ein paar Mal zu oft im Jurysessel gedreht. Sie hampelt, kopfnickt, streckt jedem ungefragt ihre Finger zum Victory-Zeichen entgegen. Ihre Urteile strotzen vor  „geil“, „süß“ und „Mann, ey“, und Nena freut sich, wenn eine Kandidatin „echt mal so richtig musikalisch da rangeht“. 

Die Macher der Sendung, die Fans und auffallend viele Kritiker sind sich in einem einig:  „The Voice of Germany“ habe „Niveau und Qualität“ ins deutsche Fernsehen zurückgebracht. Das ist verblüffend. Und bezeichnend für die deutsche Fernsehlandschaft: Da werden einmal keine Schwachen fertiggemacht, und schon heißt es, hier herrsche Niveau.

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