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Medien: Chefredakteure mit Helfersyndrom

Von Ulrike Simon Stell dir vor, es ist Wahltag, und du weißt immer noch nicht, für wen du stimmen sollst. Für viele mag das unvorstellbar sein: Aber es werden auch am 22.

Von Ulrike Simon

Stell dir vor, es ist Wahltag, und du weißt immer noch nicht, für wen du stimmen sollst. Für viele mag das unvorstellbar sein: Aber es werden auch am 22. September 2002 wieder Wähler aus dem Haus gehen, sich zur Wahlkabine aufmachen und mit dem Stimmzettel in der Hand erst in der Wahlkabine entscheiden, welcher Partei sie ihr Kreuzchen geben. Bis zur letzten Minute haben Politiker also noch viele Möglichkeiten, das Stimmverhalten der Wähler zu beeinflussen. Auch den Medien kommt in der Zeit vor der Wahl eine besondere Bedeutung zu. Mit ihren Informationen dienen sie ihren wählenden Lesern als Entscheidungshilfe. Sollen sich Zeitungen und aktuelle Magazine diese Unentschlossenheit zunutze machen?

Vor wenigen Tagen kündigte die „Financial Times Deutschland“ an, zur Bundestagswahl 2002 an ihre Leser eine Wahlempfehlung auszusprechen.

Diese „endorsements“ sind in Amerika und Großbritannien üblich (siehe Kasten). In Deutschland wäre das ein Novum. „Unsere Entscheidung, vor der Bundestagswahl eine klare Position zu beziehen, ist konsistent mit unserem Leitartikel-Konzept“, sagen die „FTD“-Chefs Wolfgang Münchau, 40, und Christoph Keese, 37. Jeden Tag veröffentlicht die „FTD“ als einzige deutsche Zeitung drei anonyme Leitartikel, die „die Mehrheitsmeinung der Redaktion widerspiegeln“. Dieses Prinzip will das Blatt nun bei der Bundestagswahl anwenden. Ziel sei es, den Lesern eine klare Orientierung zu geben. „Wir werden uns die Frage stellen, welche Parteien, Koalitionen und Politiker die von uns gesetzten Prioritäten am besten erfüllen. Und diese Position werden wir laut und deutlich in einem oder mehreren Leitartikeln formulieren“, sagen die beiden Chefredakteure. Welcher Partei die Gunst zuteil werden soll, will die Redaktion in einer Konferenz einige Wochen vor der Wahl entscheiden. Der Leitartikel erscheint dann „innerhalb der letzten Woche vor der Wahl, aber nicht notwendigerweise in der Ausgabe direkt vor der Wahl“.

Die Wahlkampfmethoden in Deutschland werden denen in Amerika immer ähnlicher. Die Personalisierung nimmt zu, schon 1998 hat die SPD eine Kampa eingerichtet, und im Wahlkampf 2002 werden, wie in Amerika üblich, erstmals Fernsehduelle zwischen den Kandidaten Schröder und Stoiber veranstaltet. Machen sich nun auch die gedruckten Medien Amerika zum Vorbild?

Die Diskussion initiierte „Welt“-Chefredakteur Wolfram Weimer mit einem für Springer einzigartigen Parteienbekenntnis. Weimer kündigte an, erstmals in der Geschichte der Zeitung eine Empfehlung abgeben zu wollen. Nicht die CDU, wie man vermuten könnte, will er empfehlen, sondern „wahrscheinlich die FDP“. Das stand am 15. Mai in der „FTD“. Kurze Zeit später begann die Diskussion um die Mitgliedsaufnahme von Jamal Karsli in die FDP, die Partei geriet in den Verdacht, antisemitisch denkenden Mitgliedern Obdach zu bieten. Springer ruderte zurück: Die „Welt“ werde keine Wahlempfehlung geben. „Eine politische Festlegung ist nicht mit unseren publizistischen Grundsätzen vereinbar“, hieß es in einer Mitteilung an die Presse.

Springer hat eigene Grundsätze, die jeder Redakteur unterschreiben muss. Dazu gehört „die Aussöhnung zwischen Juden und Deutschen“. Für alle Zeitungen gilt das Prinzip der „Unabhängigkeit“ und „Überparteilichkeit“. So stand es auch bei der „Welt“ früher auf Seite 1. Heute steht da www.welt.de .

Sind Wahlempfehlungen mit dem Selbstverständnis von Zeitungen vereinbar? „Bild“-Chef Kai Diekmann, 37, sagt: „,Bild’ ist unabhängig und überparteilich. Eine Wahlempfehlung würde diesen Grundsätzen, aber auch unserem Verständnis von der Rolle des Journalisten widersprechen. Journalisten sollen Beobachter sein, nicht Mitspieler; Sie sollen Distanz wahren, nicht mitmischen; sie sollen die Könige kontrollieren, nicht die Könige machen.“

Damit ist der Boulevardmann einer Meinung mit Günther Nonnenmacher, 53, einem der Herausgeber der „FAZ“. Er sagt: „Der politische Teil der ,FAZ’ jedenfalls wird keine Wahlempfehlung abgeben, weil wir nicht glauben, dass dies zum recht verstandenen Journalismus gehört.“

Gleichgültig, ob die Zeitungen eher dem rechten oder dem linken Lager zuzuordnen sind. In diesem Punkt sind sich zumindest die meisten Chefredakteure einig: Wahlempfehlungen wie in Amerika sollte es nicht geben. „Das Grundgesetz geht von einem mündigen Bürger aus. Und eine mündige Leserschaft kann sich selbst ein Urteil bilden, ohne dass man ihr die Hand in der Wahlkabine führen muss“, sagt Thomas Eyerich, 48, Vize-Chefredakteur der „taz“. Sicherlich gebe es Zeitungen mit einer bestimmten Klientel, die das gern tun würden, glaubt er. Doch für große, unabhängige Blätter überregionalen Zuschnitts schließt er das aus.

Mündige Menschen sind nicht nur Leser, sondern auch Journalisten. Bei der „FTD“ heißt es, die Redakteure begrüßen die Entscheidung, eine Wahlempfehlung auszusprechen. Schwierig dürfte es trotzdem sein, als Redakteur bei einer Zeitung zu arbeiten, die eine Partei empfiehlt, deren Inhalte vollkommen konträr zur eigenen Meinung sind. Das gilt nicht nur für „taz“-Redakteure. Eyerich könnte sich gar nicht vorstellen, dass sich seine Redaktion auf eine Wahlempfehlung einigen könnte: „Das würde unsere redaktionellen Kräfte auf Jahre hinaus binden“. Und käme beim Leser und Redakteur nicht der Verdacht auf, die eigene Zeitung würde sich von einer Partei vereinnahmen lassen?

Die „FTD“-Chefredakteure sehen die Unabhängigkeit dadurch gewahrt, dass sie wie ihr englischsprachiges Mutterblatt „vor jeder Bundestagswahl erneut entscheiden werden, wem wir unsere Stimme geben“. So unterstützte die „FT“ bis Ende der 80er die Konservativen, später aber die Labour Partei.

Monatelang vor einer Wahl diskutieren Zeitungen die Programme und Sachthemen der Parteien. Das sollte dem Leser genügend Orientierung bieten. Die „FTD“-Chefs würden sich dennoch freuen, wenn ihr Beispiel Schule machen würde.

„Vorstellen könnte ich es mir bei einigen Blättern, wünschen würde ich es mir nicht“, sagt Hajo Schumacher, 38, Chefredakteur von „Max“, einer Illustrierten, die speziell jüngere Leser ansprechen will. „Die Leser sind schlau genug, sich ihre eigene Meinung zu bilden. Zumal die Wirkungsforschung davon ausgeht, dass bestehende Meinungen verstärkt, aber nicht grundlegend verändert werden.“ Einen weiteren Punkt gibt Schumacher zu bedenken: „Was ist mit Verlagen, an denen Parteien beteiligt sind?“ Das „Neue Deutschland“ gehört der PDS, mehrere Medienbeteiligungen hält die SPD.

In der angelsächsischen Zeitungstradition betrachtet man „endorsements“ nicht als Entmündigung der Wähler. Dennoch: Eine Wahlempfehlung abzugeben, das „wäre meiner Meinung nach anmassend und würde unsere Leser erkennbar unterfordern“, sagt Gabor Steingart, 39, Chef des Hauptstadtbüros vom „Spiegel“. „Vielleicht gibt es Argumente für das Abgeben von Wahlempfehlungen, mir wollen sie nicht einfallen. Unsere Aufgabe ist es, die Leser mit allem zu beliefern, was sie für ihre politische Meinungsbildung brauchen. Wir ,Spiegel’-Leute sind aber weder ein Empfehlungsautomat noch ein Polit-TÜV. Gegen eine unbestreitbare Amerikanisierung setzen wir auf einen Journalismus, der präzise hinschaut.“

Dem „Spiegel“ verweigerte Helmut Kohl Interviews, das Magazin sei „im Zweifel links“ einzuordnen, hat der Gründer Rudolf Augstein gesagt. Sind die Blätter nicht ohnehin einem politischen Lager zuzuordnen?

Vorbildlich im angelsächsischen Journalismus ist die Trennung von Nachricht und Kommentar. In Deutschland geben nach Ansicht von Michael Maier, 42, Chefredakteur des Online-Mediums „Netzeitung“, Medien „ihre Wahlempfehlung am laufenden Band, oder, schlimmer noch, versteckt in parteilicher, voreingenommer Berichterstattung.“

Vielleicht ist die Grenze zwischen parteilicher Berichterstattung und Wahlempfehlung fließend. So gilt für die „Süddeutsche Zeitung“ nach Angaben ihres Chefredakteurs Hans Werner Kilz, 58, dass aus den Leitartikeln der nächsten Zeit durchaus „eine gewisse Präferenz“ herausgelesen werden dürfe. Er sagt, der Vorteil einer Wahlempfehlung sei immerhin, dass sie „eine klare Position einnimmt“. In der Tat wurde die Frage in seiner Redaktion erörtert. Dagegen habe gesprochen, dass dies bei der „SZ“ keine Tradition sei, auch wenn Kilz zugibt, „dass ich auch nicht gewusst habe, dass wir das noch nie gemacht haben“. Die „SZ“ habe sich in der Vergangenheit nicht auf einen Kandidaten, sondern auf Themen festgelegt, „wie damals bei der Ostpolitik, das war natürlich auch ein verstecktes Votum für Brandt“.

Ist der Anspruch unabhängiger Berichterstattung eine Mär? Offensichtlich nicht für Andreas Petzold, 46, Chefredakteur des „Stern“: „Eine Wahlempfehlung würde nicht zu unseren publizistischen Grundsätzen passen.“ Konkrete Wahlempfehlungen einzelner Medien werden in Deutschland die Ausnahme bleiben, glaubt er.

Nicht zuletzt dürfte es die Verlage wenig freuen, wenn Abonnenten kündigen, weil sie es ablehnen, von ihrem Blatt die „falsche“ Partei empfohlen zu bekommen. Vielleicht hält das manche Blätter zurück, eindeutige Wahlempfehlungen auszusprechen.

Zumindest ein Sympathisant scheint „Focus“-Chef Helmut Markwort, 65, zu sein: „Nur eine Wahlaussage zu machen, wäre natürlich zu platt. Aber wenn differenzierter argumentiert wird, dann hat es durchaus Sinn. Es gibt ja viele Wechselwähler oder Nichtwähler, bei denen es gut wäre, wenn sie von einem unabhängigen Dritten eine Empfehlung bekommen“. Markwort glaubt, dass eine solche Neuerung einen „Gewöhnungsprozess“ brauche.

Man kann es aber auch so machen wie „Max“-Chef Hajo Schumacher: „Wir empfehlen Jürgen Trittin, weil er eine gute Umweltpolitik gemacht hat, Hildegard Hamm-Brücher, weil sie für eine seriöse FDP steht, Angela Merkel, weil sie sich von den Männern nicht unterkriegen lässt, und Hans Eichel für solide Haushaltspolitik. Wir warnen dagegen vor Rudolf Scharping, Jürgen Möllemann und allen rechten Gruppierungen.“

Und der Tagesspiegel? Chefredakteur Giovanni di Lorenzo gibt jetzt schon eine ganz klare Empfehlung: „Wählen gehen!“

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