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Medien: Das Kichern nach dem ersten Kuss

Die meisten Drehbuchschreiber wissen wahrscheinlich gar nicht, wie sehr sie ihre Zuschauer enttäuschen, wenn sie Dialoge schreiben, die sie wohl als „aus dem Leben gegriffen“ empfinden, die aber bloß aus dem Fernsehen gegriffen sind. In denen immer derselbe Ton vorherrscht und immer dieselben Wortverbindungen vorkommen.

Die meisten Drehbuchschreiber wissen wahrscheinlich gar nicht, wie sehr sie ihre Zuschauer enttäuschen, wenn sie Dialoge schreiben, die sie wohl als „aus dem Leben gegriffen“ empfinden, die aber bloß aus dem Fernsehen gegriffen sind. In denen immer derselbe Ton vorherrscht und immer dieselben Wortverbindungen vorkommen. Handelt es sich um einen Familienfilm, ist der Grundton in der Standardsituation genervt oder vorwurfsvoll, und die Wörter heißen: „Was hast du da schon wieder …“ „Ich habe dir doch hundert Mal …“, „Kannst du denn nicht einmal …“ oder „Lisa, bittää !“ Durch solche Routine abgeschreckt, könnte das Publikum heute Abend den Film „Mütter, Väter, Kinder“ etwas zögerlich einschalten, um aber alsbald zu stutzen, die Lautstärke hochzuziehen, ein Kissen in den Nacken zu schieben und tief durchzuatmen.

Was ist denn das? Die Leute da reden ja wie Menschen, wie sehr verschiedene Menschen auch noch. Das Leben, aus dem Fernsehmacher so gerne greifen wollen, erscheint plötzlich auf dem Bildschirm.

„Mütter, Väter, Kinder“ erzählt die Geschichte einer Patchwork-Familie, und sie nimmt ihren Gegenstand insofern sehr ernst, als sie jedem Flicken, jedem Mitglied in diesem zusammengestoppelten Familienverbund seinen eigenen Charakter, sein eigenes Schicksal und seinen eigenen Tonfall gönnt. Nebenrollen gibt es in diesem Film fast nicht.

Mutter Ginger (Katja Flint), ein Späthippie mit zwei Kindern von zwei Männern und einem derzeitigen Lebensgefährten namens Hans (Matthias Brandt), den sie nicht zu ehelichen gedenkt, steht zwar rein dramaturgisch gesehen im Mittelpunkt. Aber ihr – stets sprunghaft-spontanes – Tun und Lassen erhält kaum mehr Gewicht als die Suche der Tochter Nico nach ihrem Erzeuger, als die ersten Schritte des noch kindlichen Sohnes Max ins Reich der Erotik und die boshaften Ausfälle der gelähmten Oma (Gisela Trowe), die nichts von Ginger hält.

Ja, und dann ist da noch Hans, der, während seine Liebste ihre Mutter erst versorgen und dann in ein Altenheim verfrachten muss, sein Restaurant zu retten versucht, mit dem Gerichtsvollzieher kungelt und sich in die Aushilfskellnerin verliebt. Was das Verlieben betrifft, so hat ausgerechnet diejenige, die bei aus dem Leben gegriffenen Routine-Familienfilmen jeden Tag mit einem anderen ankäme und die Nächte durch heulte, die halbwüchsige Tochter Nico, überhaupt nichts damit am Hut. Sie ist mit der Kindsvatersuche voll ausgelastet. Aber ihre eigene Mutter bändelt mit dem Pfleger an, beziehungsweise er mit ihr.

Eros ist immer gegenwärtig, aber er tritt jedes Mal in völlig anderem Habitus auf. Bei Hans und der schönen Aushilfskellnerin Marianne (Julia Jäger) ist der Höhepunkt ein nicht enden wollender Blick. Bei Ginger und dem netten Pfleger ist es ein Fingerspiel. Und bei Max und seiner blonden Mitschülerin ist es das Kichern nach dem Kuss.

Drehbuchautor Sathyan Ramesh schreibt nicht nur menschlich-ursprüngliche, sondern auch witzige, manchmal sarkastische Dialoge. Er besitzt das Talent für die „sophisticated comedy“, und man darf gespannt sein, was da noch alles kommt. Der Regisseur Stephan Wagner hat seine bunte Truppe in eine Spiellaune versetzt, in der sie über sich selbst und das übliche Niveau des Routinefilms hinauswächst. „Mütter, Väter, Kinder“ ist übrigens die Fortsetzung von „Wie krieg ich meine Mutter groß?“ von 2003, in dem ebenfalls Katja Flint als Späthippie Ginger brillierte. Ausnahmsweise ist Teil II (mit gleicher Besetzung, aber neuem Stab) um Klassen besser. Barbara Sichtermann

„Mütter, Väter, Kinder“,

ARD, 20 Uhr 15

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