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"Das unsichtbare Mädchen": Im Schatten des Verbrechens

Dominik Graf inszeniert mit "Das unsichtbare Mächen" einen Thriller in Anlehnung an den Fall "Peggy". Ein Film voller Wucht und Schluchten.

Das Volk will Langweile. Deswegen schaltet es Sonntag für den Sonntag den „Tatort“ im Ersten ein. Dort wird das Grundprinzip Ordnung – Unordnung – Ordnung ständig erneuert. Kein Mörder entkommt, kein Zuschauer muss nach Sendeschluss um 21 Uhr 45 fürchten, dass da draußen einer frei herumläuft, der längst verhaftet sein müsste. Die Kernbotschaft lautet: Verbrechen lohnen sich nicht und nie. Wer lange genug „Tatort“ geschaut hat, der wird ein guter Deutscher. Ein guter Deutscher kann auch sein, wer Krimis von Dominik Graf mag. Er schätzt nur nicht so sehr die Langeweile wie die Mehrheit des Fernsehvolkes. Das bedingt Kompromisslosigkeit, ja Härte. Dominik Graf setzt auf beides in seinem Film „Das unsichtbare Mädchen“. Schlimmer noch: Die 122 Minuten stecken keine festen moralischen Grenzen ab, die Protagonisten überschreiten sie, spielen damit, verschieben sie, je nachdem, welches Ziel es zu erreichen gilt. Das nimmt dem Zuschauer den Atem, weil der Sympathieaufbau zu einer Figur gar zu gerne zerstört wird. „Das unsichtbare Mädchen“ ist nicht unmoralisch, der Film ist amoralisch. Er zwingt sein Publikum zum Pas de deux auf dem Strich, ob ein Polizist nur fies bis verabscheuungswürdig handelt oder ob eine gewisse, stringente Größe darin liegt. Und das Finale ist endgültig verstörend. Wieder geschieht ein Mord, der Zuschauer reagiert erleichtert. Ein solcher Film muss aufregend sein. Fängt so harmlos an. Betriebsausflug der Mordkommission aus Sihl ins tiefe Franken, ins Bärental, wie die Gegend um Eisenstein an der Grenze zu Tschechien genannt wird. Dort trifft Niklas Tanner (Ronald Zehrfeld), der sich aus Berlin nach Sihl versetzen ließ – die Gründe liegen vorerst im Dunkeln, von einer Nähe zu kleinen Mädchen geht die Rede –, auf den pensionierten Kommissar Joseph Altendorf (Elmar Wepper). Im Gasthaus, durch das sich eine rote Linie auf dem Boden zieht. Die Gäste diesseits der Demarkationslinie glauben, dass der geistig behinderte Emanuel „Ecco“ Stock vor elf Jahren die damals achtjährige Sina Kolb ermordet hat. Die andere Hälfte glaubt das nicht. Altendorf hat den Fall nicht aufklären können, es gab keine Leiche, keine eindeutigen Blut- noch DNA-Spuren. Aber es gab den Kommissar Wilhelm Michel (Ulrich Noethen). Er wurde auf Geheiß des Innenministers statt Altendorf Leiter der Sonderkommission. Kein filigraner Sammler, ein brutaler Jäger, er will oben mit der Obrigkeit sein. Michel brachte „Ecco“ zum Geständnis, das der zwar widerrief, trotzdem wurde „Ecco“ verurteilt. Altendorf hatte damals resigniert, aber sich seine eigene Grabkammer gebaut – ein Zimmer, von oben bis unten mit Materialien zum Fall gefüllt. Altendorf mag alt, verbraucht, verbittert sein, doch er erkennt, dass Tanner interessiert und unkonventionell genug ist, die Toten nicht ruhen, die Lebenden nicht in Ruhe zu lassen. Tanner lernt die Mutter von Sina kennen. Inge-Maria Kolb (Silke Bodenbender) kaufte zu einem Zeitpunkt ein Grab für ihre Tochter, als noch keineswegs feststand, ob das vermisste Mädchen überhaupt tot war. Im Schatten dieses Verbrechens geschieht ein weiteres, eine Frau aus dem Dorf wird ermordet. Tanner entdeckt neue Spuren, die bis ins Rotlichtmilieu hinter der Grenze führen. Wieder und wieder wirkt die unsichtbare Hand von Kommissar Michel hinein in die Aufklärung, die Verunklarung dessen, was damals geschah, was jetzt geschieht. Hinter Michel steht ein Minister, der Ministerpräsident werden will, neben dem Minister steht ein Staatssekretär (Tim Bergmann), der nicht will, dass der Minister Ministerpräsident werden wird und zugleich höher steigen will in der bajuwarischen Nomenklatura. Matjoschka ist ein Bösewicht. Der Münchner Kriminalschriftsteller Friedrich Ani („Kommissar Süden“) wirft gemeinsam mit seiner Co-Autorin Ina Jung ein so weites wie engmaschiges Netz aus. Die Figuren haben eine Doppelseite, eine öffentliche und eine eigentliche. Den tiefsten Abgrund ins Böse hinab trägt Kommissar Michel in sich, der als – Entschuldigung – Riesen-Arschloch jederzeit bereit ist, durchzuziehen, durchzugreifen, zu tricksen und zu manipulieren, wenn es der großen Erzählung und seiner eigenen Biografie dient. Ulrich Noethen spricht zwar ein Fränkisch, das in seiner Negierung aller harten Konsonanten so freundlich daherkommt, doch in seiner so grotesken Wortkälte die Figur zeichnet. Noethen ist ein überragendes Bleichgesicht, er spielt, was sein Kommissar denkt, er denkt, was sein Kripochef den anderen vorspielt. Ihm zur Seite (und doch nicht zu Seite) steht Kommissarin Fink (Anja Schiffel), die sich mit ihm hochschläft, doch mit einem Restposten Gewissen handelt. Jede Figur hat einen Schatten. Die Handlung und die Handlungen sind voller Wucht und Schluchten. Regisseur Dominik Graf, zuletzt präsent mit „Im Angesicht des Verbrechens“, bricht auf und lässt zusammenstürzen. Wenn sich Fink und Tanner prügeln und dabei ein Hotelzimmer zerlegen, sprengt das den Rahmen unseres krimierzogenen Vorstellungsvermögens, nicht aber den Rahmen dieses Films (der fiktionalisierte Fall „Kolb“ folgt in Auszügen dem authentischen Fall „Peggy“). In seinen Extremen ist „Das unsichtbare Mädchen“ nicht extrem, sondern der Aufriss einer rauen Wirklichkeit. Graf inszeniert einen wahrhaftigen Reigen in einer Mikro-Welt, in der Polizeimethoden, die Rolle der Justiz, Demokratieverständnis und der Wert eines Menschen Purzelbäume schlagen. Ein Regisseur muss schon sehr sicher sein, dass er einen standfesten Spannungsbogen aufgebaut hat, wenn er sich traut, einer regennassen Straße im Wald eine Aussage zuzutrauen. Die Kameramänner Michael Wiesweg und Hendrik A. Kley nehmen solche Motive ein paar Mal ins Bild. Das Detail bestätigt das Gros, der gefangene Zuschauer denkt die Geschichte schon weiter, stattet sie aus, komplettiert sie. Der Schnitt verdoppelt die Dynamik der Perspektivwechsel, er schachtelt die Ebenen, reißt auseinander und fügt zusammen. Zuweilen springt der Film durch sich hindurch. Elmar Wepper ist spätestens seit „Kirschblüten – Hanami“ so ein Laut-Leise-Spieler, introvertiert, vielleicht ins falsche Leben geraten, doch dort nicht verloren. Der andere Kommissar, Niklas Tanner, ist der Großstadt-Bulle. Ronald Zehrfeld, von Graf gerne in dieses Rollenbild gefügt, spielt den Fahnder wach, massig ohne Tumbheit, eine Berliner Kraft-Bulette mit dem nötigen Schuss Sensibilät. Obelix kann Asterix sein. Es ist schwer, es ist ungerecht, aus diesem Ensemble jemand herauszuheben, doch bei Silke Bodenbender muss es sein. Bodenbender wird gar zu häufig als die Polly Patent im deutschen Fernsehfilm eingesetzt. Richtung verzweifelte Mutter der toten Sina, aber nie ganz Opfer, eine Dorfschlampe, so unberechenbar wie andere gewaltbereit sind. Eine unschuldig gewesene, schuldig gewordene, vom Leben hin und her geworfene Frau in Bayerisch-Eisenstein.

„Das unsichtbare Mädchen“, Arte, um 20 Uhr 15

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