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Medien: Der „Independent“ gibt klein bei

Die seriöse britische Zeitung erscheint im Tabloid-Format – und bricht damit ein Tabu

Das Prinzip kennt man gut hier zu Lande, von den Frauenzeitschriften: Dass nämlich, wenn das Format schrumpft, quasi automatisch die Auflage wächst. Hefte wie „Joy“, die ihre Größe auf die Hälfte reduziert haben, verkaufen sich als so genanntes Pocket-Heft tatsächlich doppelt so gut.

In England versucht nun sogar eine Tageszeitung, mit der Methode Auflage zu machen: der „Independent“. Seit Anfang Oktober gibt es ihn in zwei Größen, wie Suppendosen oder Farbtöpfe. Wahlweise als Broadsheet in gewohnter Zeitungsbreite, oder als Tabloid im Halbformat. Derselbe Preis, fast derselbe Inhalt. Aber eben kleiner und handlicher, dafür aber dicker.

„Unsere Leser, besonders diejenigen, die im Zug und mit der U-Bahn zur Arbeit fahren, haben schon lange den Wunsch nach einem praktischeren Zeitungsformat geäußert“, so begründete „Independent“-Chefredakteur Simon Kelner das neue Format, das bislang nur in London verkauft wird.

Aber natürlich ist der Mini-„Independent“ mehr als ein Sevice für existierende Leser, die im Gedränge der U-Bahn vom Broadsheet-Format mit seiner Spannweite von 73 Zentimetern genervt sind. Die auflagenschwächste überregionale Zeitung Großbritanniens sucht neue Leser – vor allem unter der zeitungsfeindlichen Jugend. Schon einen Tag nach dem Start war mindestens einer gewonnen, wie man der Leserbriefecke entnehmen konnte: „Sir: Vielen Dank. Seit Jahren wollte ich die Qualität einer Broadsheet-Zeitung im Tabloid-Format. Ich steige jetzt vom ,Guardian’ auf den ,Independent’ um. Anne Philippe. Croydon.“

„Auf jeden Fall belegen sie jetzt mehr Platz im Regal“, sagt ein Kioskbesitzer im Londoner Westen. Hier, im Zeitungskiosk beginnt der tägliche Überlebenskampf britischer Zeitungen. Abonnenten gibt es kaum. Täglich muss sich ein Blatt gegen die Konkurrenz behaupten. Nun geht der „Independent“ gleich mit zwei Stapeln ins Rennen. Es ist Lunchtime und von den 25 Exemplaren des Mini- „Independent“-Stapels im Kiosk in West-London sind schon 12 verkauft – offiziell gibt die Zeitung keine Verkaufszahlen raus. Zu erfahren ist nur, dass zum Start 30 000 Exemplare des Kleinformats gedruckt wurden und dass man hofft, dass sich die zusätzlich verkauften Zeitungen bei 10 000 einpendeln. Bei einer Auflage von 180 000, weit abgeschlagen hinter dem nächsten Konkurrenten, dem „Guardian“ mit 360 000 Exemplaren, ein potenziell Existenz rettender Zugewinn.

Und wie groß ist der Aufwand? „Ein Tabloid-Format ist ein halbes Broadsheet-Format. Man kann es mit denselben Maschinen drucken. Statt 40 große 80 Seiten kleine Seiten“, erklärt Gary Callum von der Fachzeitschrift „Production Journal“. Die „Independent“-Tabloid-Zeitung wird in der „Independent“-Stammdruckerei hergestellt – im Anschluss an das Großformat. Aber der Aufwand ist doch nicht unbeträchtlich. Mehrere Extra-Layouter müssen für die kleine Zeitung einen neuen Umbruch machen. Hier fällt eine Schlagzeile etwas kürzer aus, dort wird ein Foto gestrichen. Beim Artikel über den Irak fallen zwei Absätze weg. Die ganzseitige Anzeige des Elektronikhändlers „Curry“ wird in der Kleinausgabe einfach verkleinert. Aber die des Konkurrenten „Comet“ geht nun über zwei Seiten. Da muss natürlich extra abgerechnet werden.

Doch nicht aus technischen Gründen ist der „Mini-Indy“ eine Zeitungsrevolution. Ein kulturelles Tabu wird hier gebrochen. Seitdem 1903 der „Daily Mirror“ als erste Tabloid-Zeitung mit Fotos auf den Markt kam und die „New York Daily News“ 1919 als erstes US-Pendant mit Sex und Sensationen aufwartete, gilt das Gesetz: Intelligenzblätter brauchen das Großformat, Tabloid-Formate mit ihren kurzen Sätzen sind für den Boulevardgeschmack.

Allerdings wollen Zeitungen schon lange aus dieser Zwangsjacke heraus. „Le Monde“, „El País“, die „Neue Zürcher Zeitung“ haben relativ kleine Formate. In England werden Intelligenz-Blätter wie das „Times Literary Supplement“ oder die „London Review of Books“ im Halbseiten-Format gedruckt. Regionalzeitungen sind inzwischen ausnahmslos aufs kleine Format umgestiegen. Klassische „Broadsheets“ wie der „Guardian“ liebäugelten schon vor zehn Jahren mit einer „Miniausgabe" – aber nur die Kultur- und Featurebeilage, der „G2“ mit den langen Lesetexten schaffte es ins Tabloid-Format. Andere, wie die „Times“, folgten. Nun müssen Zeitungsleser in der U-Bahn mit zwei verschiedenen Formaten jonglieren, wobei die Kulturbeilage beim Aufklappen unweigerlich auf den Boden fällt.

Ernst gemacht hat man beim „Independent“, um einen der gefährlichsten Londoner Konkurrenten ins Visier zu nehmen – „Metro“, eine Tabloid-Zeitung, die an U-Bahnhöfen kostenlos verteilt wird. Das dünne Blättchen ist in 20 Minuten gelesen – so lange dauert die durchschnittliche U-Bahnfahrt. Das hat den Zeitungsmarkt für die Londoner Pendler mächtig aufgewühlt.

„Independent“-Geschäftsführer Ivan Fallon experimentierte eine Weile mit einem neuen Zeitungsdesign für den Mini-„Independent“. Aber das hätte seine Leser verschreckt. So hat man den bewährten „Independent“ einfach nur ins Tabloid-Format übersetzt.

Wird es Nachahmer geben? „Sie wollen den Markt testen. Wenn es erfolgreich ist, werden sie ganz aufs Tabloid-Format umsteigen“, sagt Gary Callum. Sogar der konservative „Daily Telegraph“ gab zu, dass er bereits mit dem Format experimentiert hat. Zeitungsdesigner Mario Garcia, der in Europa praktisch jede Zeitung entworfen hat, glaubt, dass es in 20 Jahren nur noch Tabloid-Formate gibt. Warum auch nicht? Schließlich lässt sich das handliche 56-Zentimeter-Format auch am Frühstückstisch viel eleganter über das Marmeladenbrötchen schwingen.

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