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Medien: Der singende Herausgeber

Zunächst schien es eine Marotte zu sein: Johann Georg Reißmüller, konservative Stimme der „FAZ“, singt Arbeiterlieder aus der DDR. Seinen ersten Auftritt hatte er in der Redaktionskonferenz. Seitdem lassen ihn die Lieder nicht los: Er singt sie fast täglich – bald auch in einem Film

Von Barbara Nolte

Nicht, dass man sich nicht vorbereitet hätte: Den schwarzen Rock von der Mutter geliehen, im Zug Reißmüllers „FAZ“- Leitartikel von 1985 bis 1999 gelesen. Und vom Bahnhof Straubing hat man ein Taxi genommen, obwohl sein Haus nur fünf Minuten entfernt liegt. Sieht besser aus. Johann Georg Reißmüller steht am Gartentor. Sehr groß, graue Haare. Er trägt ein Hemd mit kurzen Ärmeln, eine Buntfaltenhose, unter der offene Sommerschuhe mit Socken hervorschauen. „Nol-te“, spricht er den Namen der Reporterin nach. „Woher kommt der Name?“, fragt er interessiert. Ja, woher kommt der Name? Ehrlich gesagt: Man hat es sich bis jetzt noch nicht einmal gefragt. „Ich weiß es gar nicht.“ Frau Reißmüller kommt zu Hilfe, wechselt das Thema. „Tee? Milchkaffee?“ Ja, Milchkaffee ist gut. Sie bringt eine Plastikdose mit dem Aufdruck „Café au Lait“ aus der Küche. „Ein Löffel, zwei?" Johann Georg Reißmüller sucht nach der Zuckerdose für den Gast und rezitiert dabei einen Reim von 1948: „Zucker sparen – grundverkehrt! Zucker essen, Zucker nährt!“

Es gibt diese lustige Geschichte über Johann Georg Reißmüller, die eigentlich der Grund war, warum man nach Straubing gekommen ist: wie Reißmüller, der ein Vierteljahrhundert lang Herausgeber der „FAZ“ war, mit einem Repertoire aus DDR-Arbeiterliedern im Konferenzraum auftritt.

Es war kurz vor seiner Pensionierung, im Jahr 1998. Die Dienstagskonferenz, in der die Redakteure über das Weltgeschehen diskutieren, widmete er zu einer „zeitgeschichtlichen musikalischen Lehrstunde“ um. Was einer kleinen Kulturrevolution gleichkam, ganz besonders in der intellektuellen, ja, steifen „FAZ“. Aber in jeder deutschen Zeitung wäre es undenkbar. Man muss es sich mal vorstellen: Ein Herausgeber bläst die Wochenkonferenz, das große, Hierarchien bestätigende Ritual einer Redaktion, mit der Begründung ab: „Jetzt machen wir mal was Gescheiteres.“ Und dann stellt er sich hin und singt!

„Bei einigen Liedern gab es so viel Beifall“, sagt Reißmüller, „ich wäre fast in den Boden versunken“. Er musste sogar zwei Mal auftreten: Weil der Saal zu klein war für alle Interessenten, hatte er die Veranstaltung geteilt. „Ich hab’s extra schematisch gemacht, damit es schön grotesk wirkt.“ So sang er erst für die Redakteure, deren Nachnamen mit den Buchstaben A bis K begannen, dann für L bis Z.

Aber außerhalb der Zeitung kam er weniger gut an. „Es sei, als würde Fritz J. Raddatz zusammen mit Carola Stern und Monika Maron HJ- und BDM-Lieder singen“, fand Klaus Harpprecht, der ehemalige Redenschreiber von Willy Brandt. Der Vergleich ist polemisch, aber auch nicht ganz falsch: Die bürgerliche „FAZ“ und Arbeiterlieder, das sind zwei Welten. Erst recht Reißmüller: der „Hardliner der Zeitung“, wie die „taz“ schrieb, der Mann mit dem Beinamen „Kommunistenfresser“. „Kommunistenesser, bitte!“, antwortete er darauf immer routiniert. Seine Leitartikel zur DDR lesen sich zwar eher analytisch als eifernd. Doch scheint immer seine Grundüberzeugung durch: ein unverrückbarer Antikommunismus.

Reißmüller geht in schnellen Schritten die Treppe hinauf in sein Arbeitszimmer: Er will der Reporterin eine CD mit seinen Arbeiterliedern vorspielen. „Damit wir besser reden können.“ Er singt die Lieder noch immer fast jeden Tag, hier oben in seinem Haus, allein. Manchmal begleitet ihn auch ein Bekannter am Klavier. Er schließt das Fenster. „Sonst kommt der Verfassungsschutz, vielleicht“, sagt er. Dann macht er die „Maschine“ an, wie er seinen CD-Player nennt.

„Amerika stopft Affen in die Satelliten“, singt er, „und jagt sie halb lebendig in den Raum – so etwas kann man heute nur noch Affen bieten –denn einem Menschen imponiert das kaum – Lasst die Schimpansen doch in Ruh – und lernt vor allem eins dazu: Im Weltraum siegte die SU.“

In anderen Liedern singt er von westdeutschen „SS-Polizisten“, die einen Arbeiterfunktionär durch die Straßen hetzen. Und von den „Tagen im August – da haben wir unseren Schutzwall gebaut – wir konnten nicht länger warten.“ Sein Kompagnon Heribert Klein hat die Lieder schlicht und schön arrangiert: Ein Klavier als Begleitung, mehr nicht. Und Reißmüller hat eine volle, kräftige Baritonstimme. Die Lieder haben die DDR-Bürger vielleicht nicht mitgerissen, denn als Agitationswerkzeug haben sie ganz offensichtlich versagt. Aber an diesem sommerlichen Mittwochmorgen in Straubing machen sie richtig gute Laune.

Die großen DDR-Komponisten haben sie komponiert: Hanns Eisler, Paul Dessau und Louis Fürnberg. Mehrere tausend Lieder gibt es insgesamt: zum 10-jährigen Staatsgeburtstag, zum Mauerbau, sogar zur Eröffnung des Fernsehturms. Bizarres darunter: Markus Wolf selbst hat für seine Stasi eine eigene Hymne aus dem Russischen übersetzt.

Anfangs, sagt Reißmüller, habe ihn selbst seine Frau nicht verstanden. „Aus meinem Mund kommunistische Lieder zu hören, das hat sie nicht für möglich gehalten.“ Aber das beirrte ihn nicht. „Weil ich keine pädagogische Ader habe, habe ich ihr nicht viel erklärt, sondern gesagt: ,Das mache ich jetzt!’“

Mit den Liedern – heute versucht er es mit einer Erklärung – wolle er die frühe DDR vor dem Vergessen bewahren. „Wenn über die DDR geredet wird, dann über die späte, über die Honecker-DDR. Die war aber eine viel weniger echte DDR.“

Er selbst hat die frühe DDR erlitten. Seine Familie war nach dem Krieg von Böhmen nach Vorpommern vertrieben worden. Manche der Arbeiterlieder hat er schon damals gelernt. Er hat viel gesungen, wollte sogar von Beruf Sänger werden – daher die gute Stimme. Doch er bekam eine Hungertuberkulose und musste aufhören. Reißmüller legt noch heute auf eines Wert: „Kommunistische Lieder habe ich nie mitgesungen. Wenn eines kam, habe ich den Mund fest zugemacht.“ Er war als junger Mann schon Antikommunist, trotzdem in der FDJ, weil er, wie er erklärt, an sich selbst den Beweis erbringen wollte, dass man in dem Regime nicht überleben kann. Das gelang ihm auch. 1950 musste er nach Westberlin fliehen, der Vater kam daraufhin ins Gefängnis. Die frühe DDR, sagt er noch, war eine „böse Zeit“, eine „Zeit von immer neuen Verfolgungen“.

Im Westen hat er Karriere gemacht: bis an die Spitze der „FAZ“, bis in die Nähe von Helmut Kohl. Der Stern nannte ihn seinen Berater. „Blödsinn“, sagt Reißmüller, „den Kohl kann niemand beraten.“

Doch die DDR ließ ihn nie los. Sobald er konnte, hörte er Ostradio. „Westradio hat mich eigentlich nie interessiert.“ Wann immer er von seinem Frankfurter Chefschreibtisch wegkam, „schlich“ er, wie er es ausdrückt, Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck hinterher: Er reiste die Lebensstationen der beiden ab. Zum Beispiel zum Großen Döllnsee, an dem Ulbricht in der Nacht zum 13. August der DDR-Führung den Bau der Mauer ankündigte. Er habe die Männer „verorten“ wollen. Und – anders als man nach Lektüre seiner Kommentare vielleicht denken würde – er sah die DDR nicht nur aus antikommunistischer Perspektive: Er quartierte sich zum Beispiel bei Berlin-Besuchen auch nach der Wende in Ost-Hotels ein. „Dort roch es noch nach DDR“, erklärt er. Das mochte er.

Er wurde der Bonner Politik dagegen mehr und mehr überdrüssig. Rückblickend sagt er: „Wenn ich das alles nicht gehabt hätte, wäre es auch nicht schlimm gewesen.“

In seinen letzten Jahren bei der „FAZ“ war es auch, als er die Arbeiterlieder wiederentdeckte. Sie sind für ihn mehr als ein Zeugnis einer „bösen Zeit“. Er mag sie. Wohl auch, weil sie der Soundtrack seiner Jugend sind. Und anders als beispielsweise Lieder von Schubert erinnern sie ihn nicht bei jeder Strophe daran, dass er seine Stimme nie hat fertig ausbilden lassen können. Für die Arbeiterlieder ist seine Stimme genau richtig.

Reißmüller wird sie bald in einer Dokumentation singen, die die Berliner Filmemacherin Ilona Ziok über ihn dreht. Ilona Ziok hätte gerne, dass er bei der Premiere auftritt, wie damals in der „FAZ“. Doch Reißmüller ist skeptisch: „Kein Mensch weiß mehr, wer ich bin. Da darf sich keiner was vormachen. Der Herr Klein ist auch nicht so bekannt. Ja, wer soll denn da Feuer fangen? Ein paar Sonderlinge vielleicht!“

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