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Medien: „Der Stromausfall hat uns geholfen“

Bill Keller, Chefredakteur der „New York Times“, über die Krise seiner Zeitung und den US-Journalismus nach dem 11. September

Der Skandal um den Geschichtenerfinder Jason Blair stürzte Ihre Zeitung vor einem halben Jahr in eine schwere Krise. Wie geht es der „New York Times“ heute?

Jason Blair war nur der Katalysator für ein viel größeres Problem, das unsere Zeitung hatte. Es geht vielmehr um die ganze Redaktionskultur und um die Art, wie wir in den vergangenen drei, vier Jahren Journalismus betrieben haben. Wir arbeiten daran, das zu verbessern. Aber ich sage Ihnen: Auch wenn wir mit all unseren Veränderungen Erfolg haben und die Abläufe in der Zeitung weniger angreifbar machen, werden wir es doch nie schaffen, die „New York Times“ vollständig gegen Leute wie Blair zu schützen.

Wie meinen Sie das?

Zum einen weil er ein außergewöhnlich schlauer, zielstrebiger Mensch war. Vor allem aber, weil Zeitungen nun einmal von einer gehörigen Portion Vertrauen abhängen, die man den Journalisten entgegenbringt. Wir werden auch in Zukunft nicht die Telefone unserer Reporter anzapfen oder ihnen Bewacher mitgeben, wie das in anderen Ländern üblich ist. Wir müssen auch in Zukunft darauf bauen, dass die Menschen, die für uns arbeiten, unser Vertrauen verdienen.

Sie sagten, das eigentliche Problem war nicht der Schwindler Blair, sondern Ihre Redaktionskultur …

Ja, der Skandal um Blair war nur der Ausdruck einer Reihe von Problemen. Zum Beispiel gab es Schlupflöcher bei der Auswahl, Ausbildung und Kontrolle vor allem der jungen Reporter. Aber das viel größere Problem war, dass unsere Nachrichtenredaktion besonders angreifbar war, weil dort eine Art von unkritischem Patriotismus herrschte, eine beinahe militärische Befehlsstruktur. Kaum jemand traute sich, seine Vorgesetzten zu kritisieren. Und es wurde einfach nicht genug miteinander geredet. Das war das viel größere Problem, durch das die Redaktion in diesen Zustand geraten konnte.

Und Sie als neuer Chefredakteur werden das jetzt ändern?

Ja, und ich denke, wir haben schon ein gutes Stück geschafft. Durch den Wechsel an der Spitze hat sich die Stimmung in der Zeitung in den vergangenen Wochen sehr beruhigt. Auch der Bericht der Kommission, die den Skandal untersucht hat, ist sehr hilfreich. Am meisten zur Normalisierung hat allerdings etwas anderes beigetragen: Der Stromausfall in New York hat uns sehr geholfen.

Wie bitte?

Ja, es klingt vielleicht komisch, aber dieser Vorfall hat meiner Meinung nach am meisten dazu beigetragen, dass sich unsere Journalisten wieder auf ihre Arbeit konzentrieren. Plötzlich zogen alle wieder an einem Strang, um über den Stromausfall und seine Folgen zu berichten. Die Reporter taten endlich wieder das, was ihre wichtigste Aufgabe ist: Informationen zusammenzutragen. Es war wie eine kleine Explosion, nach der niemand mehr über Blair und die Krise sprach, sondern alle nur noch an die Zeitungen von morgen und übermorgen dachten. Seitdem ist die Stimmung in der Redaktion wieder gut, und man spürt ein Gruppengefühl wie lange nicht mehr. Zudem reden die Leute wieder miteinander. Ich denke, das hilft uns bei den strukturellen Änderungen, die wir vorhaben.

Zum Beispiel?

Wir werden einen neuen leitenden Redakteur einstellen, der für Mitarbeiterbetreuung und Karriereplanung zuständig ist. Ein weiterer neuer Redakteur wird dafür verantwortlich sein, dass die Redaktion ihre hohen ethischen Standards einhält. Und seit kurzem haben wir einen Ombudsmann, der sich als Sprecher der Leser versteht und deren Fragen und Klagen vertritt. Auch haben wir neue, strengere Richtlinien erlassen, die den Umgang mit Informationen, anonymen Auskünften und Ortsangaben betreffen. Aber all das hilft nur, wenn wir glaubhaft machen, dass wir wirklich einen neuen Stil pflegen wollen. Das ist einer der Gründe, wieso ich zum Chefredakteur ernannt wurde. Mein Stil ist es, anderen Leuten zuzuhören, mich zu beraten. Ich mag Ideen, die von unten hochkochen, anstatt dass man von oben sagt, was gemacht wird. Ich delegiere gern einen Teil der Verantwortung. Das haben meine Vorgänger anders gemacht, die haben eher autokratisch regiert.

Hat die „New York Times“, die viele für die beste Zeitung der Welt halten, an Glaubwürdigkeit bei ihren Lesern verloren?

Ich denke schon. Deswegen ist es jetzt eine meiner Aufgaben zu zeigen, dass wir weiterhin glaubwürdig sind. Das geht allerdings nicht, indem man keine Fehler mehr macht. Jeder macht Fehler, immer wieder. Aber wir müssen noch mehr darauf achten, dass wir diese Fehler so schnell wie möglich öffentlich korrigieren und die Verantwortung dafür übernehmen. Nur so können wir den Schaden wieder gutmachen. Ich denke allerdings auch, dass unsere Leser sich um diese Dinge weniger Gedanken machen als die anderen Journalisten. Es ist wahrscheinlich einfacher, unseren guten Ruf bei den Lesern wiederherzustellen als bei den Kollegen der anderen Medien.

Manche Ihrer Leser nehmen Ihnen nicht nur die BlairAffäre übel, sondern beklagen sich auch, dass die „Times“ in Sachen Irakkrieg parteiisch ist.

Ich glaube nicht, dass wir in dieser Frage eine bestimmte Politik vertreten haben. Ich höre immer wieder die Kritik, dass wir in der Zeit vor dem Krieg eher skeptisch waren. Aber diese Einschätzung ist übertrieben und falsch. Es gab vielleicht mal einzelne Geschichten, die die reservierte Haltung eines Reporters ausgedrückt haben. Aber im Allgemeinen haben wir keine bestimmte Position vertreten. Es gibt allerdings immer eine bestimmte Wechselbeziehung zwischen der Regierung und den Journalisten, eine Art natürlichen Antagonismus. Das liegt zum Teil daran, dass Reporter naturgemäß alles wissen wollen und die Regierung von sich aus am liebsten gar nichts sagen würde. Ich denke, dieser Konflikt ist unter der Bush-Regierung größer als unter Clinton, weil Bushs Leute viel verschlossener sind. Und sie verwenden viel mehr Mühe darauf, die Medien in ihrem Sinn zu beeinflussen. Dagegen wehren sich die Reporter natürlich. Vielleicht kommt daher der Eindruck, wir wären auf einer bestimmten politischen Seite. Das stimmt aber nicht.

Manche Leser empfanden Ihre Berichterstattung nach dem 11. September 2001 aber nicht als Bush-kritisch, sondern im Gegenteil als unkritisch und patriotisch …

Ich glaube, der 11. September hat unsere Sprache elektrisch aufgeladen. Je stärker eine bestimmte Story den Autor emotional berührt, desto schwieriger wird es, sie zu schreiben, ohne jemand anderem zu nahe zu treten. Immer die richtigen Worte zu finden, ist nach dem 11. September schwieriger geworden.

Hat die „New York Times“ nach dem 11.9. einen zu patriotischen Ton angeschlagen?

Seit jenem Tag hat sich Amerikas Rolle in der Welt radikal geändert. Wir sind mehr auf uns gestellt und handeln mehr unilateral – manche nennen es arrogant – als zuvor. Vielleicht spiegeln das die amerikanischen Medien – unsere Zeitung eingeschlossen – bis zu einem bestimmten Punkt wider. Aber gleichzeitig haben wir immer versucht, diese Tendenz zu bekämpfen, indem wir viele Berichte von unseren Korrespondenten gebracht haben, wie der Rest der Welt uns Amerikaner sieht. Aus meiner Sicht haben die US-Fernsehsender viel einseitiger und patriotischer reagiert als die Zeitungen. Fox News hat den Anfang gemacht. Danach wollten alle anderen TV-Stationen beweisen, dass sie keine geringeren Patrioten sind. Manche Kommentatoren haben sich ohne Wenn und Aber hinter den harten, interventionistischen Kurs der US-Regierung gestellt. Das haben wir so nicht gemacht. Allerdings kann man sich natürlich auch als „New York Times“ nicht ganz frei von der Stimmung machen, die in unserem Land seit dem 11. September herrscht.

Das Gespräch führte Lars von Törne.

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