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Medien: Deutschland braucht eine Klimaerwärmung

Lächeln und gutes Benehmen zeigen Respekt vor dem Nächsten – warum die Deutschen höflicher werden müssen

Eigentlich ist es ganz einfach. Man schiebt die Mundwinkel etwas auseinander und hebt sie dann leicht an. Es entsteht: ein Lächeln.

Damit haben wir die Basis für den Erfolg geschaffen. Mit einem Lächeln fängt gutes Benehmen an. Es signalisiert Offenheit und Freundlichkeit. Es hilft, allen möglichen Unannehmlichkeiten und Reibereien vorzubeugen. Manchmal verwandelt es das Gegenüber sogar. Wer außerdem die Kunst beherrscht, ein Lächeln von innen heraus anzuknipsen, kann sich kaum noch schlecht benehmen.

Leider ist das Lächeln keine deutsche Kunst.

In dem Alltagsgrau, das über einer leicht depressiven Gesellschaft liegt, fällt einem das in den ersten Momenten nach einer Reise auf. Das Gesicht des Pass-Kontrolleurs zeigt keinerlei Regung. Muss es ja auch nicht. Ein Lächeln würde aus einer behördlichen Prozedur eine Art Willkommen machen. Vielleicht fürchtet der Beamte, etwas von seiner Autorität einzubüßen, wenn er lächelt. Wahrscheinlich aber kommt er gar nicht darauf, dass er in die Ausübung seines Amtes ruhig auch ein Lächeln integrieren könnte. Auch der Mann, der sich mit rudernden Armen einen besseren Platz am Gepäckband erkämpft, würde mit einem Lächeln wahrscheinlich seine Drängelmentalität verraten und vermeidet es tunlichst. Der Taxifahrer, an dessen Autotür man sich wehgetan hat, könnte mit einem Lächeln ein Entschuldigungssignal aussenden, weil er das kleine Malheur mit etwas mehr Achtsamkeit hätte verhindern kö nnen. Das lässt er schön bleiben. Hat er Angst, damit ein Schuldeingeständnis abzulegen?

Ein Lächeln offenbart eine Haltung, die einem anderen Menschen, auch einem wildfremden, die Welt schöner und leichter erlebbar machen will. Das aber wird oft als peinlich empfunden, und keineswegs nur bei den zu Unrecht viel gescholtenen jüngeren Menschen. Wenn immer mal wieder von dem dringenden Bedarf an mehr Benimm die Rede ist, wenn der Ruf nach Übungskursen laut wird, die Schüler tauglich für eine Lehre machen sollen, Berliner Busfahrer fit für die Fuß ballweltmeisterschaft oder die Deutschen an sich bereit für den Erfolg in Zeiten der Globalisierung, dann denken alle oft zuerst an Mechanisches, an Regeln, Grußformeln, die korrekte Benutzung von Besteck.

Doch Besteck war gestern. In einer globalisierten Welt haben sich exakte Anweisungen darüber, wie man was verzehrt, sowieso gelockert. Mit den Herausforderungen eines Hummerbestecks kann man ganz entspannt umgehen, solange man die Grundlagen beherrscht, die einen unabhängig von der jeweiligen Umgebung als netten Menschen entlarven. Diese „Basics“ klingen so einfach, dass man sie als selbstverständlich abtun möchte. Aber das sind sie nicht. Rücksichtnahme gehört dazu. Verantwortungsbewusstsein. Grundlagen, die einen Menschen dazu bringen, automatisch das Richtige zu tun, selbst wenn er die exakten Regeln nicht kennt.

Ein voll besetztes Flugzeug kann nicht gleich starten, weil Rushhour ist. Es steht auf dem Rollfeld. Daran kann absolut niemand etwas ändern, weder der Pilot, der auf die Startgenehmigung warten muss, noch gar die Stewardessen. Trotzdem fängt der Mann in Reihe zwölf zu schimpfen an. Nach kurzer Zeit vergiftet er mit seiner schlechten Laune die Atmosphäre an Bord. Selbst wenn man die Hummerschalen mit Hammer und Kneifzange erlegt, begeht man nicht ansatzweise einen ähnlich großen Fauxpas. Das ist vielen, die bereit wären, sich mit komplizierten Essmanieren auseinander zu setzen, aber freiwillig nie auf die Verbreitung ihrer schlechten Laune verzichten würden, oft gar nicht bewusst.

Auch die hierzulande nicht ausrottbare Drängelmentalität fällt in diese Kategorie. Kaum hat der Metrobus seine Türen geöffnet, ballen sich die Leute zusammen wie ein Wollknäuel, das durch ein Nadelöhr soll. Das Einsteigen dauert so natürlich viel länger, als wenn einer dem anderen den Vortritt ließe in einem eleganten Reißverschlussverfahren. Anscheinend geht es aber nicht anders, weil viele Menschen nur nach innen gucken und dort ausschließlich sich selbst sehen. Das Ich als Super-VIP. Aber erst wenn man in der Lage ist, andere Menschen wirklich wahrzunehmen, stellt sich gutes Benehmen ein. Auch bei der viel zitierten Schlacht am kalten Büfett kann man das erleben – jene Raffgier in den Gesichtern von Menschen, die nur einer einzigen Person immer und überall den ersten Platz gönnen: sich selbst.

Andere Gesellschaften sind da weiter. In den USA beispielsweise kann ein Besucher kaum mal einen Moment lang irgendwo herumstehen, ohne gefragt zu werden, ob er Hilfe braucht. Das zeigt, worum es letztlich geht: Andere Menschen wahrzunehmen, ihr Wohl möglichst nicht geringer zu schätzen als das eigene.

Darum geht es übrigens auch bei der Benutzung von Besteck. Das dient ja vor allem als Hilfe, um eine Mahlzeit ästhetisch auf einem so hohen Niveau zu sich zu nehmen, dass weder Augen noch Kleidung der Umsitzenden beleidigt werden. Schön, wenn man mit großer Souveränität dem Hummer zu Leibe rückt. Auch gut, wenn man einen Moment lang verharrt und schaut, wie die anderen verfahren. Gar nicht schlimm, wenn man den Nachbarn im leichten Plauderton fragt, wie er die Bewältigung des Krustentiers anzugehen gedenkt. Mit ein bisschen Glück trifft man auf jene Hilfsbereitschaft, die zu den unverzichtbaren Grundlagen guten Benehmens zählt.

Dem Glück lässt sich nachhelfen. Haltungen werden nicht im hohen Alter entwickelt, sondern am besten so früh wie möglich. Und dass sich etwas ändern muss, haben viele Rufer in der Wüste der Unhöflichkeit längst erkannt.

Benimmkurse in Schulen sind zwar immer noch die Ausnahme, aber immerhin gibt es schon welche. Doch was immer dort gelehrt wird, um etwa halbwegs anständig Spaghetti mit Tomatensauce zu essen: Ihr Sinn liegt woanders. Sie erwecken ein Bewusstsein, dass gutes Benehmen notwendig ist, um ein erfolgreiches Leben zu führen. Kaum etwas ist wichtiger im Leben als die Schärfung von Sensibilität und Wahrnehmungsvermögen. Wirklich gutes Benehmen bedeutet keinen Zwang zu konformem Verhalten. Sicher hilft es, wenn man für das Mittagessen mit einem potenziellen Chef die gängigen Tischsitten beherrscht. Noch besser ist es, wenn man ausstrahlt, dass man an den Bedürfnissen und Sorgen eines anderen Menschen Interesse hat. Ein Lächeln hilft, diese Ausstrahlung zu verstärken.

Das Klima, in dem wir leben, an dem wir mitwirken, speist sich aus gutem Benehmen. Wer das einsieht, akzeptiert auch die kreative Weiterentwicklung altgedienter Regelwerke. An der Spitze des Staates hat sie sich längst durchgesetzt. Die hö chste Protokollchefin der Adenauer-Ära, Erika Pappritz, tat sich noch hervor mit Veröffentlichungen zu einer „Etikette“, die detailgetreu vorschrieb, wen man wo um wie viel Uhr besuchen darf, auf welche Weise Spargel zu essen und Tee zu trinken sei. Die Enkelgeneration ist über solche Petitessen hinausgewachsen.

Heute steht Bernhard von der Planitz an der Spitze des Protokolls im Auswärtigen Amt, und wenn ihm Benimmfragen gestellt werden, zum Beispiel, wie man Weißwurst korrekt zu sich nimmt, wann ein Handkuss verlangt wird und wo ein Diener, dann überweist er den Fragenden ohne Verzögerung an den Verband der Tanzlehrer in Wuppertal. „Damit haben wir nichts zu tun“, sagt er. Das ist schade. Nun muss das Außenamt bei solchen Fragen nicht unbedingt an der Spitze der Nation liegen. Aber es gibt auch eine Arroganz der Unerzogenen – „wir brauchen keine Etikette, weil wir lieber echt und ehrlich sind“. Lässt sich mit solcher Einstellung ein optimales Gesprächsklima schaffen?

„Wir setzen die Rahmenbedingungen für erfolgreiche Gespräche mit organisatorischen Mitteln“, heißt es dazu. Damit die Atmosphäre stimmt, muss gewiss die Sitzordnung korrekt sein, müssen vorbereitete Programmpunkte klappen wie am Schnürchen. Aber das ist es nicht allein.

Wann immer sich der Protokollchef zu seinem Arbeitsgebiet äußert, wird eines deutlich. Es kommt vor allem auf die menschliche Dimension an, auf die Haltung, mit der man einem Gast begegnet. Das Programm soll ihm Spaß machen. Durch die Art und Weise, wie man mit ihm spricht, soll er sich willkommen fühlen. Ja, auch Geschenke spielen eine Rolle. Es reicht nicht, sich mit einer bestimmten Summe von einer Bringpflicht loszukaufen. Geschenke sollen so ausgewählt sein, dass sie signalisieren, in welchem Maße sich der Schenker mit dem Beschenkten auseinander gesetzt hat. Vom Präsidenten eines anderen Landes war bekannt, dass er ein Faible für das Reparieren alter Taschenuhren hatte. Also ließ der Gastgeber vor dem Staatsbesuch dieses Präsidenten eine alte Uhr und einen historischen Reparaturkasten besorgen. „Der sprang fast in die Luft vor Freude.“ Gerade solche Details tragen zu einer guten Atmosphäre bei, setzen die Rahmenbedingungen für einen erfolgreichen Austausch. Wer sich mit seinen Gästen beschäftigt, Interesse an ihnen zeigt, ihnen zuhört und eine echte menschliche Verbindung schafft, wird auch ein erfolgreicher Gastgeber, ein gern gesehener Gast sein. Einfühlungsvermögen in die Gedankenwelt des anderen ist heute viel wichtiger als die Frage, wann und von wem ein Geschenk korrekter überreicht wird.

Was an der Spitze des Staates von Profis erledigt wird, sollte im Kleinen beizeiten trainiert werden. Je überschaubarer die Welt wird, desto größer die Chance für den Einzelnen, auch zum Botschafter seines Landes zu werden. Und das beschränkt sich keinesfalls auf den Urlaub. Je enger die Geschäftswelt vernetzt ist und je globaler sie wird, desto eher wird auch der Manager zum Botschafter.

Wenn es aber um geschäftliche Erfolge geht, kann sich eine Gesellschaft nicht mehr die Nachwirkungen etwa jener Handtuchkriege leisten, die vor Jahren in die Schlagzeilen gerieten. Damals schnappten sich auf den Lieblingssonneninseln die Urlauber gegenseitig die begehrten Liegen am Hotelpool weg, indem sie sie frühmorgens mit ihren Handtüchern und anderen Besitztümern blockierten. Manche stellten sich gar den Wecker – obwohl sie wussten, dass sie am Pool nur kurz Zeit verweilen würden. Boulevardblätter stilisierten solche Auseinandersetzungen zu einer Art Ersatzkrieg zum Beispiel zwischen deutschen und britischen Touristen hoch. Mit einer souveränen Haltung, die gutes Benehmen im Kern ausmacht, wä re das nicht passiert. Vor dem erobernden Handtuchwurf hätte der Gedanke an die Mitgäste des Hotels gestanden. Und wie viel Genuss bereitet das kurze Sonnenbad noch, wenn dabei Dutzende böser Blicke auf einem liegen?

Wer erfolgreich sein will, muss angenehm im Umgang sein. Deshalb ist es wichtig, dass dort, wo Eltern eine adäquate Sozialisation an neue Gegebenheiten nicht leisten können oder wollen, Lehrer und Ausbilder einspringen. Sie alle müssen erziehen, müssen die Kultur des Lächelns lehren und verbreiten. Die Vermittlung von angenehmen Tischsitten ist ein Anfang, reicht aber bei weitem nicht aus. Über Tugenden wie Rücksichtnahme und Freundlichkeit kann und muss ü berall geredet werden, wo junge Leute geformt werden.

Ein Modellprojekt im Saarland hat im vergangenen Jahr eine entsprechende Diskussion und ähnliche Initiativen in Gang gebracht. Zuvor waren bereits in Bremen schon Toleranz und Respekt auf den Lehrplan gehoben worden. Allein dabei darf es nicht bleiben. In ganz Deutschland muss an Orten, an denen Wissen vermittelt wird, auch gutes Benehmen vorgelebt werden. Lernen durch Taten. Das beschränkt sich nicht auf Benimmlehrer. Für das souveräne und gute Auftreten ihrer Schüler sollten sich alle Mitglieder eines Kollegiums verantwortlich fühlen und auch bereit sein, entsprechende Fehler immer wieder zu korrigieren.

Das ist mit viel Arbeit verbunden. Aber irgendwann werden die Anstrengungen belohnt. Dann wird es niemand mehr peinlich finden, einen völlig fremden Menschen anzulächeln. Einfach so. Es wird selbstverständlich sein und eine sehr erwü nschte Klimaerwärmung zur Folge haben.

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