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Medien: Die sich ihr Leben zur Hölle machen

Angenommen, ein Zugereister erlebt unsere Gesellschaft im Spiegel der Gerichtsshows

Da sitzt Jana und erzählt mit gesenktem Kopf, wie es war, als Herr B. sie vergewaltigte. Und der braust auf: „Die lügt doch, wenn sie den Mund aufmacht.“ Eine Zeugin erscheint. Ob sie mit dem Beschuldigten verwandt oder verschwägert sei? „Mit dem doch nicht.“ „Ich möchte sie belehren“, spricht der Richter. „Sie müssen vor Gericht die Wahrheit sagen.“ Die Zeugin nickt. „Ich sage immer die Wahrheit.“ Da wiegt der Mann mit der Robe den Kopf. So sind die Menschen nicht, weiß er. Sie erzählen die wildesten Märchen.

Die nachmittäglichen TV-Gerichtsshows werden von der Kritik über die Achsel angesehen als Trash, der das Erbe der Schmuddel-Talks angetreten habe. Die Shows erstaunen insofern, als sie ihren Rahmen, die Rechtsprechung und ihr Ritual, keineswegs als Nebensache behandeln, sondern sie als Spannungsmoment gegen all das menschliche Versagen, das sie verhandeln müssen, zu verteidigen wissen. Die Inszenierung setzt ebenso auf die Wiederholungen des Justizpalavers wie auf schwarze Talare und holzvertäfeltes Ambiente, lauter dröge Elemente, die nicht gerade als telegen gelten.

Während die Moderatoren der prolligen Affektshows lediglich aus dem Moment heraus reagieren konnten und umso besser waren, je mehr Tränen des Zorns und der Qual sie ihren Gästen entlockten, können Richterin Barbara Salesch, Richter Alexander Hold und all die anderen sich innerhalb eines festen Regelwerks und im Dienste einer überpersönlichen Wertehierarchie bewegen, ja, sie können ihre Delinquenten sogar zu Benimm auffordern. Hier geht es um Wahrheit und Lüge, Recht und Unrecht, Strafe und Freispruch. Im Fernsehen ist das alles in 20 Minuten durchzuziehen. Danach trennen sich die Parteien in dem beruhigenden Bewusstsein, dass die Welt wieder im Lot ist. Mit Ausnahme eventuell des Bösewichts, der es aber nicht besser verdient hat.

Was würde ein Zugereister denken und sagen, von dem man verlangte, sich allein aufgrund des Fernsehens zur Teestunde ein Bild über unsere Verhältnisse zu machen? Die älteren Talk-Shows vom Schlage: „Begreif doch endlich, dass ich nichts mehr von dir wissen will“, hätten ihn wahrscheinlich dazu veranlasst, sich die zwischenmenschlichen Beziehungen allhier als kalt und erbärmlich, die Manieren als grob und schweinisch zu denken.

Die Gerichtsshows können ihn von diesem Urteil keineswegs abbringen, ja sie müssen seine Vorstellung von der Allgegenwart gemeiner Beleidigungen und gewaltsamer Übergriffe noch um die der Alltäglichkeit von Vergewaltigung und Mordversuch erweitern. Aber hier, in den Gerichtsshows, geht es um mehr: Es gilt, der Wahrheit auf den Grund zu kommen. Die wilden Märchen der „Antragsteller“, der Geschädigten und der Angeschuldigten, der falschen Zeugen und üblen Nachredner – all das wird geprüft und bewertet, und zwar nicht einfach so, sondern nach Artikel 1, Absatz 1 Strafgesetzbuch, und der Richter belehrt die Zeugen, dass sie nicht lügen dürfen. Da kann die Jana Herrn B. noch so oft „Mistkerl“ schimpfen, und er sie „Nutte“ nennen - am Ende fällt der Richter sein Urteil und sagt: „Ich bitte Sie, sich zu erheben.“ Das hat Stil.

Und so entsteht ein starker Eindruck von Ritual und Rechtlichkeit, die den unendlichen Strom menschlicher Infamie, der da heranrollt und Welle für Welle vor den Schranken des Gerichts verhandelt wird, zwar nicht lenken können, aber durch ihre Strenge und ihren Dienst an der Wahrheit doch ein wenig zu stauen vermögen. Und das ist ein sehr beruhigender Effekt.

Unser Zugereister versichert glaubhaft, dass er die in jeder Sendung wiederkehrenden Wendungen wie: „Nach Artikel 1, Absatz 1…“, „Ich muss Sie belehren …“ und „Sind Sie mit dem Angeschuldigten verwandt oder verschwägert?“ besonders gerne vernimmt, weil sie zum Ritual gehören, dessen Existenz das einzige wirksame Widerlager zu sein scheint, vor dem die Vergewaltiger, Betrüger, Mordbuben und Erbschleicher innehalten. Ihm bleiben weitere Sätze im Gedächtnis, die von den Akteuren immer und immer wieder geäußert werden: „Die lügt, wenn sie den Mund aufmacht“, „So ein Schwachsinn“ und „Das kann doch nicht wahr sein.“

Diese Worte verweisen darauf, dass es auch im Fernseh-Gericht um die Wahrheitsfindung geht, beziehungsweise dass die Welt, so wie wir sie prima vista wahrnehmen, eine Täuschung sein kann, eine Phantasmagorie, auf deren Verheißungen wir naiv hereinfallen, anstatt gewitzt hinter die Fassade zu spähen. Im Spiegel der nachmittäglichen Gerichtsshow erkennt der Zugereiste eine Gesellschaft, die weiß, dass der Schein trügt, und die ihren Schlägern und Geschlagenen, ihren Gaunern und armen Schweinen eine Bühne zur Verfügung stellt, auf der sie hinter den endlosen Nebelwerfereien der Selbstrechtfertigungen und Unterstellungen, der verbalen Attacken und realen Maulschellen, die Suche nach der wahrscheinlichen Wahrheit inszenieren können.

Allerdings fragt der Zugereiste auch, warum die Leute nicht einfach aufhören, einander unentwegt so blindwütig anzufallen – sie bräuchten sich dann ja auch nicht permanent vor Gericht zu zerren. Und zum Schluss überlegt er, wann eigentlich die Bewohner dieses Landes zur Arbeit gehen, wo sie doch rund um die Uhr damit beschäftigt sind, sich das Leben zur Hölle zu machen.

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