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Medien: Die Stadt am Kiosk

Im Jahr 1877 entschloss sich der bayerische Papiergroßhändler Leopold Ullstein, fortan auch mit bedrucktem Papier zu handeln. Ullstein, schon seit 1848 in Berlin, gründete einen Verlag und übernahm zwei marode Zeitungen.

Im Jahr 1877 entschloss sich der bayerische Papiergroßhändler Leopold Ullstein, fortan auch mit bedrucktem Papier zu handeln. Ullstein, schon seit 1848 in Berlin, gründete einen Verlag und übernahm zwei marode Zeitungen. Einen dieser Titel führte er zum Erfolg: die "Berliner Zeitung". Sie bildete in den folgenden zwei Jahrzehnten die Basis für den Aufstieg des Ullstein-Verlages. Mit der Gründung der "Berliner Abendpost" und dem Kauf der "Berliner Illustrirten" hatte er seit 1887 zwei weitere erfolgreiche Blätter in seinem Verlag.

Der Durchbruch zu einem den Berliner Zeitungsmarkt für Jahrzehnte beherrschenden Pressehaus gelang mit der "Berliner Morgenpost", die am 20. September 1898 zum ersten Mal erschien: Die Zeitung, die, wie es in einer Eigenwerbung hieß, "den Heimatgedanken" pflegte und "praktische Lebensfragen" behandelte, stieg in Rekordgeschwindigkeit zur größten Zeitung der Stadt auf und hatte im Mai 1900, nur gut eineinhalb Jahre nach ihrer Gründung, eine Auflage von 250000 Exemplaren.

Für die "Berliner Morgenpost" hatten sich die Ullsteins von bereits andernorts bewährten Vorbildern inspirieren lassen. Am 22. Oktober 1904, am Tag, an dem die "B.Z." zum ersten Mal erschien, hat der Verlag einen bis dahin in Deutschland unbekannten Zeitungstyp geschaffen: die Straßenverkaufszeitung. Ihr Titel war von Ullsteins erster Zeitung, der "Berliner Zeitung" abgeleitet (die der Verlag im Jahr 1905 einstellte), ihr Preis: fünf Pfennig.

Damit hatte Ullstein zu den beiden anderen einflussreichen Zeitungsunternehmern aufgeschlossen: zu August Scherl und zu Rudolf Mosse, der das "Berliner Tageblatt" verlegte. Die Verlagshäuser der "Berliner Großen Drei" lagen eng benachbart in den Karrees an der Charlotten- und Markgrafenstraße. Sie unterschieden sich in der politischen Haltung: Ullstein und Mosse standen für liberale Auffassungen, Scherl war dem konservativen Lager zugewandt. Die drei Unternehmen überstanden den Ersten Weltkrieg und die Inflation. Ullstein baute 1926 in Tempelhof sogar das größte Druck- und Verlagszentrum Europas und grü ndete 1928 "Tempo", ein weiteres Boulevardblatt. Die jüdischen Eigentümer von Ullstein und Mosse wurden zum Ziel antisemitischer Angriffe. "Der Angriff" - so hieß auch die Straßenverkaufszeitung, die sich in Berlin zum Prototyp der nationalsozialistischen Kampfpresse entwickelte.

Dann hat auch die Weltwirtschaftskrise die Verlage getroffen: Viele Berliner waren arbeitslos, sie konnten sich keine Zeitung mehr leisten. Im Verlag Mosse musste Ende 1932 das Konkursverfahren eröffnet werden. Auch Ullstein bekam Probleme: Die Auflage der "Berliner Morgenpost" ging zwischen 1930 und 1934 um mehr als ein Viertel zurück; sie blieb dennoch die auflagenstärkste Zeitung im Reich. "Tempo" und "Vossische Zeitung" wurden eingestellt. Die Nazis zwangen die Brüder Ullstein im Juni 1934 schließlich zum Zwangsverkauf ihres Unternehmens für 6,5 Millionen Reichsmark - etwa ein Zehntel des tatsächlichen Wertes. Seit Ende 1937 firmierte Ullstein als "Deutscher Verlag". 1940 erschien dort die Wochenzeitung "Das Reich", 1944 übernahm er auch noch die "Deutsche Allgemeine Zeitung". Die "B.Z." verschwand dagegen 1943 aus dem Berliner Stadtbild, sie wurde mit dem "12-Uhr-Blatt" zusammengelegt. Am 3. Februar 1945 wurde das alte Berliner Zeitungsviertel von Bomben zerstört, die fünf Zeitungen, die dort gemacht wurden, erschienen bis Kriegsende weiter.

Zwei Wochen war Berlin eine Stadt ohne Zeitungen: Am 15. Mai 1945 druckten die sowjetischen Besatzer die "Tägliche Rundschau", am 8. August 1945 kam die "Heeresgruppenzeitung" der US-Army für Berlin hinzu, die bereits am 27. September 1945 vom Tagesspiegel abgelöst wurde, der von der amerikanischen Besatzungsmacht lizenziert war. Eine Lizenz bekam nur, wer nachwies, dass er keinen Bezug zu Zeitungen hatte, die während der NS-Zeit erschienen waren. Für den Deutschen Verlag wurde dessen früherer technischer Direktor, Ernst R. Strunk, als Treuhä nder eingesetzt, dem es gelang, dass das Druckhaus Tempelhof mit einem Anteil von 51 Prozent bei dem "Berliner Anzeiger" einsteigen durfte, der seit dem 23. Oktober 1949 mit einer US-Lizenz erschien. Dort hatte sich der Kern der Redaktionsmannschaft der alten "Berliner Morgenpost" zusammengefunden. Durch einen neuen Titel camoufliert, ließ sie das alte Blatt wieder aufleben.

Heinz Ullstein, ein Enkel des Firmengründers, hatte 1945 eine amerikanische Lizenz für das Frauenwochenblatt "sie" erhalten. Doch die Bemühungen der Ullsteins, ihr Unternehmen wiederzuerlangen, zogen sich über Jahre hin, begleitet vom Argwohn der neu gegründeten Zeitungen, daraus könne Konkurrenz erwachsen. Erst am 3. Januar 1952 wurde zu Gunsten von Rudolf Ullstein, dem letzten der fünf Söhne Leopold Ullsteins, entschieden. Das gesamte Vermögen des Druckhauses Tempelhof einschließlich aller Titelrechte wurde an sie rückübertragen. Wegen aufgelaufener Steuerschulden kaufte der Berliner Senat zu einem überhöhten Preis das ehemalige Ullstein-Grundstück an der Kochstraße.

Die neue Ullstein AG handelte rasch: Für die am 26. September 1952 nach sieben Jahren wieder erscheinende "Berliner Morgenpost" waren die etwa 60 000 Bezieher des "Berliner Anzeigers", den Ullstein zuvor gekauft und dessen Redaktion er übernommen hatte, eine gute Startbasis. Wie sich nun zeigte, waren die Befürchtungen der anderen in Berlin erscheinenden Zeitungen durchaus berechtigt. Betroffen war nicht der Tagesspiegel als die Berliner Qualitätszeitung. Aber der "telegraf" fiel schon nach zwei Jahren hinter die "Berliner Morgenpost" zurück. Am 19. November 1953 wurde auch die "B.Z." wieder auf den Straßen Berlins angeboten, die sich bewusst an das Vorbild "Daily Mirror" anlehnte. Die "B.Z." war rasch wieder Marktführer in Berlin. Es war die letzte Lizenzerteilung, bevor auch in Berlin 1955 der Lizenzzwang fiel.

Trotz Auflagensteigerung bewegte sich der Ullstein-Verlag an der Grenze der Rentabilität. Erneut wurde er zum Übernahmekandidaten. 1954 erwarb der "Zeit"-Verleger Gerd Bucerius einen Anteil von zehn Prozent der Aktien. Zwei Jahre später kaufte Axel Springer für zwei Millionen Mark eine Sperrminorität von 26 Prozent, dann den Bucerius-Anteil. 1960 war die neue Ullstein GmbH endgültig zur Tochter des Springer-Verlags geworden.

Springers Schritt von der Alster an die Spree war - wie viele andere seiner Entscheidungen - eher emotional als rational. Im Frühjahr 1959 legte er den Grundstein für ein neues Verlags- und Druckgebäude im früheren Berliner Zeitungsviertel direkt an der Grenze zur "Hauptstadt der DDR" - für Springer ein Auftrag, publizistisch gegen die deutsche Teilung anzugehen. Das Engagement Springers in Berlin, seit dem 1. Juni 1967 auch Hauptsitz des Verlages, war erfolgreich. Doch der Konzern geriet gleich von zwei Seiten in Bedrängnis: Springers Unternehmenspolitik führte in den sechziger Jahren zur Frage nach der publizistischen und wirtschaftlichen Macht großer Verlage. Der Konzern war verunsichert. Ein großer Teil der Zeitschriftentitel wurde 1968 verkauft. Spektakulärer waren die auf der Straße ausgetragenen Konflikte. Dem Aufbegehren der 68er traten die Zeitungen des Springer-Verlages publizistisch mit einem "Law and Order"- Kurs entgegen. Der Protest eskalierte: Im April 1968 behinderten Demonstranten mit Gewalt die Auslieferung von Springer-Zeitungen.

Ungeachtet des studentischen Protestes und medienpolitischer Diskussionen blieben "B.Z." und "Berliner Morgenpost" in West-Berlin die auflagenstärksten Zeitungen. Nacheinander mussten "telegraf", "Nachtdepesche", "Der Kurier", "Der Tag" und "Der Abend" ihr Erscheinen einstellen. 1964 erreichte die "Berliner Morgenpost" mit knapp einer Viertelmillion verkaufter Exemplare die höchste Auflage nach dem Zweiten Weltkrieg; zur gleichen Zeit hatte auch die "B.Z." ihre Auflage auf 325 000 Stück erhöht und damit seit 1954 fast verdoppelt. Seitdem aber gingen ihre Auflagen langsam aber stetig zurück.

Im Herbst 1989 lag der Anteil von Springer/Ullstein am Zeitungsmarkt im damaligen West-Berlin bei 79 Prozent. Neben dem "Spandauer Volksblatt", das 1992 von Springer übernommen wurde, stand nur noch der Tagesspiegel für Vielfalt.

Zu den publizistischen Leitsätzen, auf die alle Zeitungen des Hauses Springer verpflichtet waren, gehörte die Einheit Deutschlands. Als diese jahrzehntelange utopische Hoffnung Realität wurde, trat eine paradoxe Lage ein. Springer/Ullstein, seit Generationen auf dem Berliner Zeitungsmarkt der größte Anbieter, hatte auf einmal Konkurrenten. Zwar verschwanden sehr rasch alle Zeitungen der früheren Blockparteien und Massenorganisationen, während die "Junge Welt" und "Neues Deutschland" auf Bruchteile ihrer früheren Millionenauflage schrumpften - doch aus der SED-Herrschaft erwachsenen Leser-Blatt-Bindung zog die als SED-Bezirksblatt anzusehende "Berliner Zeitung" ihren Vorteil. Sie war nun in Berlin die grö ßte lokale Abonnementszeitung und blieb es, auch wenn sich ihre Auflage in den letzten zwölf Jahren mehr als halbiert hat. Etwas stabiler war bis heute der Absatz der einzigen Kaufzeitung der DDR, der "BZ am Abend" (seit 1949), die rasch umbenannt in "Berliner Kurier" wurde.

Plötzlich war eine Situation wiedererstanden, die uns schon ein Jahrhundert vorher begegnet ist. Wieder konkurrieren drei große Verlagsgruppen am Berliner Zeitungsmarkt miteinander:"Berliner Zeitung" und "Berliner Kurier" wurden schon im Sommer 1990 an das Bertelsmann-Tochterunternehmen Gruner + Jahr verkauft, 1992 übernahm die Stuttgarter Holtzbrinck-Gruppe die Mehrheit am Tagesspiegel. Leser in Berlin können nun zwischen drei Kaufzeitungen und sieben Abonnementzeitungen mit lokalbezogener Berichterstattung wählen. Doch sie tun es nur mit großer Zurückhaltung: Alle Zeitungen haben seit 1990 Auflagen eingebüßt; einzige Ausnahme: der Tagesspiegel. Der Pressestatistiker Walter J. Schütz lehrt am Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung in Hannover.

Walter J. Schütz

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