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Medien: Die Stunde der Sturheit

Der US-Sender CNN gibt John Kerry länger eine Chance als die Konkurrenz

Es ist kurz vor zwei Uhr in der Nacht zum Mittwoch, als auf der riesigen Monitorwand, die normalerweise die Kurse der Technologiebörse Nasdaq anzeigt, die Farbe Grün aufleuchtet. Wolf Blitzer ist ganz aus dem Häuschen: „Das haben wir noch nie gemacht“, erklärt er den Zuschauern von CNN, „Ohio ist jetzt ein grüner Staat. Das heißt, es ist zu knapp, um zu sagen, wer gewonnen hat." Begeistert guckt er noch einmal auf die leuchtende Wand. Grün! Zu knapp! Wie spannend! Wie mutig! An der Seite vor einem riesigen Fenster, das auf den New Yorker Times Square blickt, sitzen drei Gestalten, die Blitzers Auftritt kommentieren wie einst Statler und Waldorf vom Balkon der „Muppets Show“. Vor allem Larry King versteht das alles, was da vor sich geht, schon lange nicht mehr. „Dann können wir jetzt also nach Hause gehen?“, fragt er wieder und wieder, verzweifelt nach einer Lösung suchend, die George W. Bush die nächste Amtszeit und ihm den Feierabend sichern würde.

Neben ihm sitzen Carlos Watson und Jeff Greenfield, die versuchen, Sinn aus den Zahlen zu machen, die in das provisorische Wahlstudio von CNN strömen. Unzählige Male haben sie, wie die Kollegen der anderen Sender, in dieser Nacht schon öffentlich ihren Schwur wiederholt, dass ihnen eine Panne wie 2000 nicht wieder passieren soll. Damals hatte der Sender ebenso wie die Konkurrenz zunächst Al Gore zum Sieger in Florida und damit zum neuen US-Präsidenten gemacht. Doch im Verlaufe der Nacht mussten sie ihr Verdikt zurücknehmen, erklärten dann Bush zum Sieger, ehe sie einsehen mussten, dass der Abstand zwischen beiden zu gering war, um mit Sicherheit ein Ergebnis vorherzusagen.

Bei CNN bearbeiten gut 30 Spezialisten hinter den Kulissen die Computer und die Telefone. Sie entscheiden, wann sie so sicher sind, dass sie einem Kandidaten einen Bundesstaat und dessen Wahlmänner zuschlagen können.

Es ist knapp eine Stunde nach Mitternacht, die Spannung steigt. Nachdem Bush mit deutlichem Vorsprung Florida eingeheimst hat und John Kerry Pennsylvania gewinnt, konzentriert sich alles auf die 20 Wahlmännerstimmen aus Ohio. Plötzlich tanzt der super-konservative Sender FoxNews aus der Reihe und schlägt Ohio dem Präsidenten zu: 51Prozent zu 48 Prozent. Auch bei CNN macht sich Skepsis breit, ob Kerry den Rückstand von etwas mehr als 100 000 Stimmen dort noch aufholen kann. Der sonst so kühle Jeff Greenfield sagt: „Macht die Lichter aus, die Party ist vorbei.“ Larry King sieht aus, als müsste er dringend ins Bett. Nur Wolf Blitzer steht vor den 168 Bildschirmen aufrecht und unerschüttert.

Die Regie schaltet nach Boston, wo Hunderte Kerry-Anhänger im Regen darauf warten, dass ihr Kandidat den Sieg erklärt. Aber nun herrscht nur noch Katzenjammer. Dann erscheint Judy Woodruff auf dem Schirm, direkt aus dem CNN-Analyse-Zentrum und sagt: „Wir sind noch nicht bereit, etwas über den Wahlausgang in Ohio zu sagen. Im Augenblick liegt Bush mit 116 000 Stimmen vorne, aber es gibt auch 200 000 vorläufige Stimmabgaben, über die noch entschieden werden muss.“ Plötzlich knistert die Luft wieder.

Zahlen fliegen hin und her. Wie viele Bezirke sind schon ausgezählt? Wie viele vorläufige Stimmabgaben gibt es? Wo sind die Stimmen von den Soldaten im Irak und in Afghanistan? Blitzer nimmt Ken Blackwell in die Mangel, den Innenminister von Ohio, doch so richtig kann der auch nicht weiterhelfen. Unterdessen steigt der Druck. Gegen halb zwei wertet NBC als zweiter Sender Ohio für Bush. Blitzer steht aufrecht und stur wie ein märkischer Bauer, umklammert seine Notizen und wiederholt sein Mantra: Noch ist nichts entschieden. Um 1 Uhr 52 schließlich erlöst ihn die Regie und gibt die Farbe Grün frei. Grün für „ungewiss“ – oder für „Hoffnung“, je nach dem, ob man Republikaner oder Demokrat ist. Bei Fox und NBC feiern sie ungetrübt den alten und neuen Präsidenten, bei CBS bleiben sie ähnlich zurückhaltend wie bei CNN, auch wenn dort Anchorman Dan Rather darüber klagt, dass das alles den Zuschauern doch Kopfschmerzen bereiten würde. Es ist 2 Uhr 30, als Kerrys Vize John Edwards in Boston auf die Bühne tritt und verkündet: „Wir haben vier Jahre gewartet, wir können auch eine weitere Nacht warten. Jede Stimme muss zählen und jede Stimme wird gezählt. Wir halten unser Versprechen.“ Es sieht nicht gut aus für die Demokraten, doch sie bleiben in dieser Nacht stur. Wie Wolf Blitzer mit seinem Grün. Nur Larry King fragt wieder: „Können wir jetzt nach Hause gehen?“

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