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Attacken im Internet: Wikileaks und der Krieg der Zeichen

Erst funktionierten die Kreditkarten von Mastercard und Visa nicht mehr. Dann war plötzlich die Amazon-Seite lahm gelegt. Seit der Verhaftung von Wikileaks-Gründer Julian Assange häufen sich Attacken im Netz. Wer sind die Akteure des Aufstands?

Schaufenster gingen nicht zu Bruch, auch Brandsätze wurden nicht in die Auslagen geschleudert. Doch ein Kaufhaus, das nicht betreten werden kann, hat ein Problem. Für viele Stunden war das Internet-Kaufhaus Amazon am Sonntag nicht zu erreichen. Stattdessen erschien eine Fehlermeldung. Ist nun auch der Einzelhandelsgigant Opfer eines Hacker- Angriffs geworden?

Am Montagmorgen sprach Amazon von einem „Hardware-Defekt“ in seinem europäischen Rechenzentrum. Das könnte eine Schutzbehauptung sein. Seit der Verhaftung von Wikileaks-Gründer Julian Assange herrscht im Internet der Ausnahmezustand. „Cyberwar“ heißt das Schlüsselwort. Für die Öffentlichkeit ist es ein weitgehend unsichtbarer „Krieg“ – bis plötzlich an der Hotelrezeption die Kreditkarten von Mastercard und Visa nicht mehr funktionieren; bis der Weihnachtseinkauf an der Warenhauskasse nicht mehr bezahlt werden kann. Denn die digitalen Fassaden der Zahlungsinstitute, ihre Websites, wurden mit so vielen Anfragen bombardiert, dass sie unter diesen so genannten DDoS-Attacken zusammenbrachen.

Es ist ein Kräftemessen. Auf der einen Seite die Störer, die über Computernetzwerke enorme Datenströme freisetzen. Auf der anderen die Trutzburgen kommerzieller Online-Anbieter, die das Internet als Handelsplatz und Kommunikationssphäre nutzen und ins Visier der Hacker geraten sind, weil sie Wikileaks auf Druck der US-Regierung die Unterstützung verweigerten. Kann sich das System noch schützen gegen Angriffe von Leuten, die nicht mal über fundierte Software-Kenntnisse verfügen? Eine Blöße will sich keine Seite geben. So bemüht sich Amazon den Eindruck fremder Willkür zu zerstreuen. Nicht die anderen, wir sind es selbst gewesen, lautet die Botschaft. Sie soll beruhigen.

Aber stimmt das Bild vom Krieg? Oder spielt sich im World Wide Web bloß ein Straßenkampf ab? Mit digitalen Sitzblockaden, Protestmärschen und Lichterketten? Und wer sind die Akteure des Aufstands, die mit der Diskussion um Wikileaks auch die Bewegungsfreiheit im Netz insgesamt bedroht sehen?

Kurz bevor am heutigen Dienstag in London darüber entschieden wird, ob Julian Assange wegen des Vorwurfs der Vergewaltigung und sexuellen Nötigung in Haft bleiben wird, zeigt sich die Lage verworren. In den Niederlanden wurden ein 16-jähriger und ein 19-jähriger Sympathisant der Anonymous-Bewegung festgenommen. Sie ist ein loser Zusammenschluss von Netz-Aktivisten, die sich für Freiheit im Netz und gegen autoritäre Strukturen einsetzen. Die beiden Jugendlichen sollen an DDoS-Angriffen von Wikileaks-Unterstützern beteiligt gewesen sein. Der Ältere habe sich mit dem Jüngeren nach dessen Inhaftierung solidarisiert und für seine Aktion Mitstreiter im Internet geworben, teilte die Polizei mit. Dadurch war er aufgeflogen. Sie hatten beide ihre Spuren nicht verwischt. Nicht gut genug. „Kinderkram“, sei das, sagt Dennis. Er muss es wissen.

Hacken, das ist eine Frage von Fantasie. Und wo, wenn nicht in einem kleinen Raum in der Berliner Marienstraße, sollte man einen treffen, dem keine Staatsräson, keine geheime Information und keine fremde Webseite heilig ist. Hier, wo sich die Menschen selbst stolz „Hacker“ nennen, tagt der Chaos Computer Club (CCC). Auf einer Reprographie neben der gläsernen Eingangstür zum Clubraum, der mit Sofas, Bar und Siff an ein Asta-Büro der 80er erinnert, ist eine Tastatur vor einem Fünfzackstern zu erkennen. Vom Weitem sieht es wie ein RAF-Logo aus.

„Wer Geheimnisse hat, der läuft hier nicht rum“, sagt Dennis, Programmierer aus Berlin und nach eigenen Angaben „seit Ewigkeiten“ CCC-Mitglied. Er trägt einen schwarzen Kapuzenpullover, seine Schläfen sind ergraut. Von feindseligen Attacken und denen, die sie ausüben, will er nichts wissen. „Die richtigen Cracks sitzen eher zu Hause. Das kostet ja auch alles wahnsinnig viel Zeit“, sagt er. Dass sie, die Cracks, als destruktive Krawallkids fungieren, glaubt der Mittvierziger indes nicht. Angriffe auf Firmenwebseiten könne jeder Teenager durchführen, meint Dennis, „und rein inhaltlich bringen diese Erpressungen gar nichts“. Was Hacker wirklich tun, sieht er in der Öffentlichkeit gründlich missverstanden: „Hacker, das sind nur die, die sich mit etwas, was Computer angeht, besonders intensiv beschäftigen und selber nach Lösungen streben, die sie dann weiterzugeben versuchen.“

Die Do-it-yourself-Programmierer schauen hinter die Benutzeroberflächen. Das Eindringen in fremde Systeme stehe dabei nicht im Mittelpunkt, noch viel weniger ihre Zerstörung. „Wir haben alle mal Mist gebaut, aber im Cyberspace gibt es genau so viel Gesetzestreue wie überall sonst“, sagt Dennis.

„Wir sind auf der Suche nach Wissen ... und ihr nennt uns Verbrecher“, lautet ein Schlüsselsatz aus dem „Hacker-Manifest“ des Amerikaners Loyd Blankenship von 1986, den auch Marc Warker gerne zitiert. Der Informatikstudent programmiert mit Dennis gerade eine LED-Anzeige an der Wand des Clubraums, wie man sie von Flughäfen oder aus modernen Bahnhöfen kennt. Dennis und Marc haben die gebraucht gekaufte Anzeigentafel so manipuliert, dass man sie ans Netz anschließen kann. Ihr Ziel ist, hier Fahrplan und Störungsmelder der Berliner Verkehrsgesellschaft abzubilden. Ein lebensnahes Projekt. „Unsere Leute wissen gerade im Winter nie, wann sie aufbrechen müssen, um pünktlich zu Hause zu sein“, erläutert Dennis. Momentan blinkt jedoch nur die Departure-Anzeige des Flughafens Tegel. Die war leichter anzuzapfen als die der BVG.

Marc Warker kennt drei Typen von Hackern und unterscheidet zwischen Whitehats, Greyhats und Blackhats. Von denen würden nur Letztere bösartige Viren und Trojaner programmieren, die fremde Computer infiltrieren. Marc selbst ist Mitglied der Piratenpartei. Den politisch motivierten Internet-„Terrorismus“ der so genannten Hacktivisten findet er trotzdem falsch. „Der Internet-Terror wird nach hinten losgehen, genau wie seinerzeit der reale Terror.“ Seine Befürchtung ist, dass die permanenten Attacken gegen Staat und Unternehmen nur systematische Repression auf den Plan rufe. Hinzu komme, dass man große Konzerne über vereinzelte Attacken nicht klein bekomme. „Das ist wie beim Castor. Du kannst noch so lange blockieren, letztlich kommt der Zug immer durch.“

Zu den Blockierern gehörten in diesen Tagen Mitglieder von Anonymous, deren Logo einen menschlichen Körper ohne Kopf zeigt. Anonymous ist keine Hacker-Organisation wie Legion of Doom, der es 1988 gelang, das amerikanische Telefonnetz zu knacken. Sie sehen eine Tugend des Internetzeitalters darin, dass jeder Mensch seine Meinung frei äußern darf, ohne seine wahre Identität preisgeben zu müssen. So steht es auf der Internetseite whyweprotest.net geschrieben. Gemein ist den Anonymous-Mitgliedern das Misstrauen gegenüber autoritären Ordnungen. Der Angriff, mit dem sie bekannt wurden, richtete sich im Januar 2008 gegen Scientology. Die für das so genannte „Project Chanology“ entwickelten Programme wurden nun wieder eingesetzt.

In den Chat-Foren der Anonymous- Seite sind die DDoS-Attacken verabredet worden. Doch nun ist es still. Man wolle, lassen die Sprecher wissen, lieber für eine möglichst weite Verbreitung der Wikileaks-Dokumente sorgen, als es denen heimzuzahlen, die das verhindern wollen. Und CCC-Sprecher Frank Rosengart spricht in einer Mail von „Netzbürgern“, die sich nicht von einzelnen Regierungen oder Firmen vorschreiben ließen, was im Internet zu sehen sei und was nicht. „Anarchie betreiben höchstens Firmen wie Paypal, Amazon oder Mastercard“, bemerkt er, „die festlegen, dass Wikileaks aus ihrer Sicht ,illegal’ ist.“

Gegenüber der neuen digitalen Protestkultur klingt die Geschichte von Gary McKinnon wie das letzte Zeugnis einer untergehenden Hackerkultur, als ein Onlinefighter noch Einzelkämpfer war. Auch der Schotte sitzt derzeit in einem britischen Gefängnis. 2002 wurde er erwischt, als er mit seiner 56K-Modemverbindung in seinem Schlafzimmer das Foto eines UFOs aus einem der 97 Geheimcomputer des Pentagon herunterladen wollte. Seither fordern die USA seine Auslieferung. McKinnon war 35, als er geschnappt wurde, er leidet am Asperger Syndrom, einer Form des Autismus, und glaubte, dass Amerika Informationen über Außerirdische absichtlich zurückhält. Während der Meisterhacker deshalb als Held der Wahrheit gefeiert wird, drohen ihm in den USA 60 Jahre Haft.

Diese Karriere würde eine Mutter aus Brandenburg ihrem 15-jährigen Sohn gerne ersparen. Gegen 17 Uhr kommen sie in die CCC-Räume. Stefan, der Sohn, soll auf sein Informatik-Studium vorbereitet werden. Jede Woche reist das Paar aus Geltow an, um von den erfahrenen Hackern zu lernen. Die führen ihn in die Benutzung der LED-Wand ein. Wie es denn wäre, meint Dennis, wenn er, Stefan, seinem Deutschlehrer vorschlüge, statt Interpretationen und Analysen im Deutschunterricht mal Artikel der Online-Enzyklopädie zu überarbeiten. „Stell dir mal vor, 100 000 Kinder arbeiten in Deutschland an Wikipedia mit“, sagt Dennis. Stefan hat da gerade „Frohe Weihnachten!“ auf die LED-Wand geschrieben.

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