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Update

Das Drehbuch des Lebens: Facebook startet Chronik

Von der Geburt bis zur Gegenwart: Facebook schaltet die neue Chronik frei. Damit wird die Selbstdarstellung endgültig zur Königsdisziplin des Internet. Hamburgs Datenschützer Caspar warnt bereits davor, allzu freigiebig mit den eigenen Daten zu sein.

Matt Brown ist nicht Max Mustermann. Matt Brown ist Kommunikationsdesigner beim sozialen Netzwerk Facebook, hat an der Indiana University Englisch studiert, lebt in San Francisco und hat den zweiten Hochzeitstag mit Ehefrau Tiffany im Naturschutzgebiet Point Reyes in einem orangenen Kugelzelt verbracht. Und Matt Brown hat seine Daten zur Verfügung gestellt, um den neuen Facebook-Dienst Timeline vorzustellen.

Die Chronik – so heißt der Dienst in Deutschland – soll das komplette Leben des Facebook-Nutzers abbilden und ist damit die wichtigste Neuerung, die das soziale Netzwerk in diesem Jahr, wenn nicht sogar seit der Gründung an den Start bringt. Am vergangenen Mittwoch fand in Neuseeland der Probelauf statt, seit diesem Donnerstag wird die Funktion weltweit bereitgestellt. Für viele Marktbeobachter ist Timeline nichts weniger als das Drehbuch des Lebens.

Auf der Seite www.facebook.de/about/timeline gibt Matt Brown einen ersten Eindruck von den Möglichkeiten des neuen Dienstes. Mit der Chronik können sich die Facebook-Mitglieder in einem bislang nicht vorstellbaren Umfang präsentieren, um ihrer Persönlichkeit Ausdruck zu verleihen. Doch genau darin liegt auch eine Gefahr, denn über die Chronik können Ereignisse oder Aktivitäten wieder sichtbar werden, die zuvor ganz tief verborgen waren. Immerhin hat sich Facebook – wohl auch im Hinblick auf den für 2012 anstehenden Börsengang – bemüht, den Datenschutz nicht außer Acht zu lassen. Man habe sich in kontinuierlichem Austausch mit den zuständigen Datenschützern befunden, nicht nur in Irland, sondern auch in Deutschland, heißt es.

Der Hamburger Datenschutzbeauftragte Johannes Caspar verweist darauf, dass durch die Chronik die Möglichkeit, Privates öffentlich zu machen, wesentlich erweitert wird. „Jeder kann hier sein Leben in allen Details selbst inszenieren. Die Funktion birgt die Gefahr, dass Nutzer sich veranlasst sehen, den bis zur ihrer Geburt zurückreichenden Zeitstrahl durch Eintragen von bislang bei Facebook nicht veröffentlichten persönlichen Daten aufzufüllen. Damit fließen Facebook noch mehr Daten zu als bisher“, erklärte Caspar auf Anfrage. „Was mit diesen Daten heute oder in Zukunft passiert, kann niemand genau sagen, der Nutzer muss sich daher immer bewusst sein, dass ihn seine Datenfreigiebigkeit auch zum Nachteil gereichen kann.“

Sobald die Neuerung verfügbar ist, befindet sich auf Timeline-Seite der Hinweis „Hol dir die Chronik“, mit dem zur Gestaltung der eigenen Chronik eingeladen wird. Erst wenn der Nutzer ausdrücklich zugestimmt hat, kann mit der individuellen Gestaltung der Chronik begonnen werden. Von diesem Zeitpunkt an hat er sieben Tage Zeit, durch die Einträge zu gehen. Die Ereignisse können aus der Chronik entfernt werden, das Datum eines Eintrages kann geändert werden, man kann einen Ort hinzufügen oder man schränkt den Kreis der Menschen ein, die einen bestimmten Eintrag sehen dürfen.

Je nach Länge der Facebook-Mitgliedschaft und Intensität der Nutzung kann das eigene Facebook-Leben schnell mehrere Tausend Einträge umfassen. Bei der Aktivierung der neuen Funktion sollte man sich darum auch nicht unter Zeitdruck setzen, sondern einen geeigneten Moment abwarten – beispielsweise die bevorstehenden Weihnachtsferien. Eine Zwangsumstellung ist nicht geplant, es ist jedoch davon auszugehen, dass die Chronik irgendwann das alte Profil ablöst.

Grundsätzlich werden erst einmal alle Aktivitäten ab dem Eintrittsdatum bei Facebook in die Chronik gestellt. Dabei gelten genau jene Einschränkungen, die der Nutzer seinerzeit eingestellt hatte. Ein komplett öffentlicher Eintrag kann auch weiterhin von jedem Facebook-Mitglied eingesehen werden. Und wenn Fotos nur für eine bestimmte Gruppe sichtbar waren, so bleiben diese benutzerdefinierten Einstellungen auch in der Chronik enthalten.

Eine pauschale Funktion, um alle Einträge auf einen Rutsch unsichtbar zu machen, gibt es nicht. Allerdings können ältere Beiträge, die man eventuell in seinen wilden Facebook-Jahren komplett öffentlich gestellt hat, so einschränken, dass sie künftig nur von den eigenen Freunden gesehen werden. Am einfachsten lassen sich die Elemente über das neue Aktivitätenprotokoll, das sämtliche Posts, Freundschaftsereignisse, Veranstaltungen bis hin zum Facebook-Beitritt enthält, einstellen. Ganz wichtig: Vor dem endgültigen Freischalten sollte die Chronik mit der Funktion „Anzeigen aus Sicht von …“ noch einmal abschließend kontrolliert werden.

Wichtigstes Steuerelement der Chronik ist ein Zeitstrahl auf der rechten Seite, der bis zur Geburt zurückreichenkann. Damit die Chronik nicht zu gewaltig wird, versucht ein Algorithmus nur die wichtigsten Ereignisse auszuwählen. Dabei kann es sich zum Beispiele um Posts handeln, die von besonders vielen Freunden mit einem Klick auf den „Gefällt mir“-Button bedacht wurden. Aber auch weniger wichtige Ereignisse sind einsehbar.

Apps bekommen ein größeres Gewicht

Neben den von Facebook automatisch erfassten Aktivitäten kann die Chronik um eigene Einträge erweitert werden. So lässt sich auch die Zeit vor der Gründung von Facebook im Jahr 2004 mit Leben füllen, um so die Chronik zum persönlichen Lebenslauf werden zu lassen. Facebook hilft dabei, sich selbst im besten Licht darzustellen. Bilderkombos mit unterschiedlich großen Fotos oder Videos können auf Wunsch hervorgehoben werden. Zudem können sie ihr Profil um Ereignisse aus ihrem Leben ergänzen - Facebook gibt dafür Kategorien wie „Neue Arbeitsstelle“, „Neues Kind“ und „Neues Hobby“, aber auch „Gewichtsverlust“, „Tätowierung oder Piercing“ oder „Erster Kuss“ vor.

In Zukunft immer wichtiger werden indes die sozialen Apps, die sich in die Chronik einbinden lassen. In den USA können die Facebook-Nutzer zum Beispiel über den Musikdienst Spotify ihren Freunden mitteilen, welche Titel sie gerade hören. Mit einem Klick auf den Eintrag können die Freunde den Song sogar selbst abspielen. Ähnliche Funktionen bieten Apps für die Videoplattform Hulu, den Video-on-demand-Dienst Netflix oder die „New York Times“. Selbst das Teilen von Büchern oder von Infos darüber, welches Kochrezept man gerade ausprobiert, ist möglich.

In Deutschland wird zum Start MyVideo dabei sein, erste Erfahrungen im Teilen von Zeitungsbeiträgen lassen sich mit dem britischen „Guardian“ sammeln.

Die neuen Aktivitäten werden dem eigenen Netzwerk zudem über den Ticker am rechten Rand der Facebook-Seite mitgeteilt. So kann man seine Freunde rund um die Uhr an seinem Leben teilhaben lassen. Einmal aktiviert werden Chronik und Ticker so zum größten jemals programmierten Empfehlungsportal mit 800 Millionen potenziellen Werbeträgern. Facebook bestreitet allerdings, an den so möglicherweise entstehenden Erlösen beteiligt zu werden. Matt Brown und seine Kollegen verdienen ihr Geld weiterhin mit der bekannten Bannerwerbung.

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