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© Tsp

Debattenkultur im Netz: Wie viel Freiheit brauchen Kommentare?

Blogger Markus Beckedahl nerven rüde Kommentare bei "Netzpolitik". Er sucht einen neuen Weg. Damit ist er nicht allein, Kommentare im Netz sind ein stetes Experiment.

Markus Beckedahl hat keine Lust mehr. Beckedahl betreibt mit Netzpolitik.org eines der meistbeachteten Blogs hierzulande und er hat keine Lust mehr, in seinem Blog jeden Tag wütende Kommentare zu lesen, zu moderieren und zu löschen.

Er habe sich jahrelang bemüht, schreibt Beckedahl, "auf (fast) jeden Kommentar einzugehen, krude Verschwörungstheorien zu relativeren, auf jede Frage eine Antwort zu versuchen, Beleidigungen (...) zu gängeln, ganz schlimme Kommentare zu löschen". Inzwischen aber wolle er die dafür notwendige Energie "lieber in sinnvolle Sachen stecken". Etwas Neues müsse her.

Erwartungsgemäß löste der Text viele Kommentare aus. Die reichen von "alles löschen, was irgendwie ein schlechtes Gefühl macht", bis hin zu "alles stehen lassen". Immerhin setzt sich die Mehrheit konstruktiv mit dem Problem auseinander.

Freiheit oder Lesbarkeit

Das Problem ist alt, alle Betreiber von Angeboten im Netz kennen es: Einerseits sollen Kommentare den Kommentatoren maximale Freiheit gewähren, andererseits sollen die dabei entstehenden Texte für Leser maximalen Nutzen haben, sich also mit dem Thema beschäftigen und es weiterentwickeln. Beide Konzepte zusammen sind nicht leicht einzulösen.

Dazu kommt: Beim schriftlichen Debattieren fehlt uns das Gesicht des Gegenübers, die direkte Rückmeldung über das Gesagte durch Mienenspiel und Ausdruck. Auch das sogenannte Setting fehlt, also die Information darüber, in welchem Umfeld und mit welchen Konventionen man debattiert. Schriftliche Diskussionen können daher schnell aus dem Ruder laufen, abseitig, uninteressant oder aggressiv werden.

Es geht dabei nicht um bestimmte Individuen – gern Trolle genannt. Es geht um ein bestimmtes Verhalten. Alle trollen irgendwann einmal, jeder ist aus Lust oder Frust mal destruktiv in einer Debatte. Das einzufangen, sodass alle Seiten von Kommentaren profitieren, ist nicht einfach, wie immer wenn es um Menschen geht.

Hier ein paar Modelle, wie das derzeit versucht wird:

YouTube: Die Videoplattform ist berüchtigt für ihre rüde Kommentarkultur. Der Betreiber Google greift nur ein, wenn Nutzer unpassendes Verhalten anzeigen, aber das geschieht eher selten. Die Verantwortung wird letztlich denen übertragen, die die Videos einstellen. Sie können Kommentare darunter ganz abschalten oder einzelne Beiträge löschen. Bei populären Videos kann das jedoch schnell zu Arbeit ausarten.

Inzwischen versucht Google, den Ton durch eine Identifizierung der Nutzer mit ihrem Namen einzudämmen. Wer kommentieren will, soll das am liebsten mit seinem Google-Plus-Profil tun; wer anonym bleiben will, soll das begründen. Allerdings bieten Klarnamen keine Garantie, dass der Tonfall sich verbessert. Sie können sogar zum Gegenteil führen, dass bestimmte Mitglieder gezielt gemobbt werden, egal, was sie sagen und schreiben.

Dem Spielehersteller Blizzard bewiesen seine Fans, welche Gefahren Klarnamen bedeuten können. Sie veröffentlichten alles, was sie zu einem Blizzard-Mitarbeiter im Netz finden konnten, der das Identifizierungs-Modell im Forum verteidigt hatte. Blizzard kehrte daraufhin schnell zu pseudonymen Kommentaren zurück.

4chan/2channel: Die beiden Foren – 2channel ist das japanische Original, 4chan das amerikanische Pendant – gehören zum Größten, was es im Bereich Kommentare weltweit gibt. Sie bilden das andere Extrem, denn beide sind komplett anonym, niemand muss seine Identität preisgeben. Aus diesem Konzept bildete sich bei 4chan auch das Kollektiv Anonymous und machte diese Haltung zum Prinzip.

Trolle können Kreativität fördern

Der Vorteil besteht darin, dass diese Foren wie ein Inkubator funktionieren, auch weil es keine Speicherung gibt. Beiträge laufen über die Seite und verschwinden anschließend. Ideen werden dadurch in schneller Folge immer neu abgewandelt und entwickeln sich oft zu sogenannten Memes – Darstellungen, die sich im ganzen Netz verbreiten. Trollen, also gezieltes provozieren, kann daher auch sehr kreativ sein und neue Ideen hervorbringen. Gleichzeitig beweisen diese Seiten, dass viel Freiheit für Kommentatoren den Nutzen für Leser eher begrenzt. Der stete Strom an Bildern, Kommentaren, Links und Texten ist oft schwer verdaulich und enthält Unmengen Nonsens. Denn geduldet wird in den Beiträgen alles, was nicht explizit verboten ist. Was nicht bedeutet, dass es gar keine Moderation gibt. So wird bei 4chan beispielsweise Kinderpornographie schnell gelöscht.

Jeden Kommentar zu lesen ist kein Patentrezept

Gawker: Bei dem Technikblog moderieren die User selbst. Beziehungsweise werden einerseits die Kommentare, die konstruktiv sind und viele Reaktionen erzeugen, weiter oben angezeigt. Andererseits können Kommentarautoren die Reaktionen auf ihren Kommentar redigieren und so selbst einschreiten, wenn sie beleidigt werden. Beleidigungen schließt das keineswegs aus, da längst nicht jeder Lust hat, anderer Leute Kommentare zu bearbeiten.

Die Seite greift zusätzlich auf einen Algorithmus zurück, versucht also mit Hilfe von Technik einzuschätzen, wie sichtbar ein Kommentar sei sollte und wo er präsentiert wird. Das macht auch die österreichische Zeitung Der Standard. Dort bewertet eine Software namens Foromat, ob ein Kommentar den Forenregeln entspricht.

Solche Programme sind bislang jedoch nicht sonderlich gut darin, menschliche Kommunikation einzuschätzen. Sie basieren letztlich auf Schlagwortlisten, um unerwünschte Begriffe zu filtern. Erkennen Nutzer das System und identifizieren sie die Filterbegriffe, können sie es problemlos umgehen und an der Software vorbei kommentieren.

Zusätzlich können Leser beim Standard jedem Kommentar positive oder negative Punkte geben und ihn so auf- oder abwerten. Solche Bewertungs- oder Belohnungssysteme werden von vielen Seiten genutzt. Wirklich gut funktionieren auch sie nicht. Weil sich einerseits Gruppen, die sich einig sind, gegenseitig nach oben wählen können. Und weil andererseits sogenannte Sockenpuppen viel Gewicht bekommen. Nutzer also, die unter verschiedenen Namen immer neue Accounts anlegen, um ihre eigene Meinung zu verstärken.

ZEIT ONLINE: Hier arbeitet wie bei vielen Nachrichtenseiten ein ganzes Team von Moderatoren. Rund um die Uhr lesen sie alles, was Kommentatoren schreiben und entscheiden bei jedem einzelnen Text, ob und in welchem Umfang er im Zweifel bearbeitet werden muss. Die Handarbeit lohnt sich für eine Redaktion, weil in den Kommentaren Themen weiterentwickelt werden. Sie bedeutet bei durchschnittlich 15.000 Kommentaren in der Woche aber einigen Aufwand.

Angesichts dessen ist auch das kein Patentrezept. Beckedahl beispielsweise hat gerade vor diesem Aufwand kapituliert, der für Blogs mit einem, zwei oder drei Autoren kaum zu leisten ist. Beckedahl schreibt: "Es ist nicht mein Job, mir als Community-Manager das alles anzutun, aber ich mache es jetzt seit acht Jahren. Ich habe in der Zeit rund 130.000 Kommentare gelesen und leider waren die meisten Zeitverschwendung."

Nicht abschalten

Mit anderen Worten: Kommentare im Netz sind ein noch lange nicht beendetes Experiment. Jede Seite, jeder Anbieter muss für sich entscheiden, wie viele und welche er wie zulassen will. Sie abzuschalten ist keine Lösung, denn damit hat niemand gewonnen. Weder Betreiber, noch Leser, noch die, die sich beteiligen wollen.

Das schreibt auch Beckedahl und sucht nun nach einem neuen Konzept für sein Blog. "Ich wollte das Problem einmal klar benennen", sagt er dazu. "Damit wir den nächsten Schritt einleiten können." Der nächste Schritt ist für ihn, eine passende Mischung aus Technik und menschlicher Moderation zu finden.

Jeder sei "selbst dafür verantwortlich, nicht dort herumzulungern, wo ihm das Niveau der Auseinandersetzung missfällt", schrieb Kathrin Passig 2011 in einem lesenswerten Text über das Thema Kommentare. Das hilft zwar den Betreibern nicht, trotzdem kann es eines von mehreren Modellen sein. Bedeutet der Satz doch letztlich, dass es für jede Meinung den passenden Platz gibt, irgendwo. Woanders hinzugehen, schrieb Passig, sei im Netz "ein praktikabler Vorschlag. Und wenn es das gesuchte Drüben nicht gibt, kann man es immer noch gründen."

Dieser Text ist zuerst auf Zeit Online erschienen.

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