zum Hauptinhalt
Die Digitalisierung hält auch im Deutschen Bundestag Einzug: Immer mehr Minister und Abgeordnete nutzen Tablet-Computer - wie hier Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble.

© dpa

Digitalisierung: Wie viel digitale Beteiligung verträgt unsere Demokratie?

Statt nur alle paar Jahre zu wählen, könnten die Bürger über das Netz an politischen Entscheidungen beteiligt werden. Doch wollen sie das überhaupt? Was halten Sie davon? Diskutieren Sie mit!

Von

Plötzlich sieht man auf der Leinwand das Universum. Daniel Reichert hat sich verklickt, der Beamer projiziert statt der Präsentation über die Abstimmungssoftware „Adhocracy“ plötzlich ein Bild des Weltalls, das sich irgendwo auf Reicherts Apple-Computer versteckt hat. Ein Versehen, klar, aber irgendwie aussagekräftig bei diesem Typen. Fragt man Daniel Reichert nach den langfristigen Chancen und Grenzen der von ihm beworbenen Bürgerbeteiligungssoftware, redet er stets von 80 Millionen Menschen, die sich langfristig digital beteiligen sollen. Das ist die Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik Deutschland.

Vorerst aber spielen sich die Experimente mit der digitalen Demokratie noch in deutlich kleinerem Rahmen ab, bei der Piratenpartei etwa, deren innerparteilicher Entscheidungsprozess ganz wesentlich auf der Software „Liquid Feedback“ beruht. Oder eben hier, in einem Saal des Berliner Abgeordnetenhauses, wo Mitglieder des piratenunabhängigen „Liquid Democracy e.V.“ gerade der „Landesarbeitsgemeinschaft Netzpolitik“ der Berliner Grünen einen ersten Einblick in die Mechanismen ihrer Abstimmungssoftware „Adhocracy“ gewähren. Reichert steht dem Verein vor. Nachdem er das Universum wieder zum Verschwinden gebracht hat, sagt er, was „Adhocracy“ nicht ist: ein Heilsversprechen. Wie er das sowieso alles gar nicht so verstanden wissen will: als wolle das Internet nun die Demokratie übernehmen. Reichert will nicht das Parlament abschaffen, „das hat sich lange bewährt“, sagt er, und dass es all das weiter geben darf, vielleicht geben muss: Parteien, Verbände, Behörden. Dass es erst mal nur um deren interne Strukturen gehe. Darum, den Mitgliedern einer Gruppe die Möglichkeit zu geben, zu gemeinsamen Entscheidungen zu kommen.

Reichert ist kein klassischer Computernerd, sondern eher der Typ smarter Geisteswissenschaftler in Jeans und Pulli. Er ist Politikwissenschaftler – das unterscheidet ihn von den vielen, die man sonst in Fragen digitaler Bürgerbeteiligung zu sprechen bekommt. Er ist kein Systemtechniker, wenn überhaupt Systemtheoretiker, eher Habermasianer. „Es geht um Diskurs“, stellt Reichert klar. Er will die Demokratie, ihre Strukturen und Institutionen, fit machen für eine Welt, in der vier- bis fünfjährige Wahlperioden zunehmend unendlich wirken gegenüber dem, was Tag für Tag an Austausch und Meinungsbildung im Netz geschieht.

„Adhocracy“ ist das System dazu, das „Tool“, wie es denglisch heißt. Das System ordnet Vorschläge nach Beliebtheit, Teilnehmer an den Entscheidungsprozessen können einem Vorschlag Dringlichkeit geben oder nehmen, indem sie ihn mit Plus- oder Minuszeichen bewerten. Nonsensvorschläge rutschen so fast unsichtbar ans Seitenende. Die Teilnehmer können sich Reputation erarbeiten, die Stimmen anderer auf sich versammeln und in bestimmte Entscheidungen mitnehmen, in denen sie dann mit größerem Gewicht abstimmen können.

Wenn die Software nur gut genug konstruiert ist, denken Visionäre wie Reichert, ist die Demokratie 2.0 zu schaffen. Und sie finden immer mehr Anhänger. Parteien und Bezirke, Ministerien, die Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft des Bundestages und sogar der altehrwürdige Petitionsausschuss. Sie alle beginnen, neue Techniken zu nutzen, eine Operation am wachen Patienten Demokratie. Nur – wollen die Bürger das eigentlich, ständig live dabei sein, ständig mitreden?

Umfragen zeichnen ein durchwachsenes Bild. Die Bertelsmannstiftung kam kürzlich nach einer repräsentativen Umfrage zu dem Urteil, dass „die neuen Formen der Meinungsbildung und Bürgerbeteiligung über das Internet möglicherweise überschätzt“ seien. Auch der sogenannte E-Government-Monitor kommt zu einer differenzierten Sicht der Dinge. Die Studie wird jedes Jahr von der „Initiative D21“ herausgegeben, einem Zusammenschluss von rund 200 Unternehmen, Institutionen und Partnern in Bund und Ländern, mit dem Ziel, die digitale Öffnung von Politik und Verwaltung zu fördern. Die Autoren sehen „ein großes Potenzial“.

Seite 2: Wie das Potenzial besser ausgeschöpft werden kann.

Prinzipiell nämlich würden die Bürger die Effekte von mehr Beteiligung – größerer Legitimität und größere Transparenz von Entscheidungen – positiv bewerten. Doch nur jeder dritte Deutsche weiß überhaupt, dass es die Online-Petition gibt, Mitmachplattformen kennen nur 17 Prozent. Andere Länder sind da weiter. Der E-Government-Monitor nennt Großbritannien. Hier kennen 64 Prozent die Möglichkeit, Petitionen online einzureichen.

Die Grünen nicken zu Daniel Reicherts Vortrag. Erst als am konkreten Beispiel eines Gesetzestextes gezeigt werden soll, wie auf diesem Weg selbst über einzelne Formulierungen effizient abgestimmt werden kann, regt sich Widerstand: „Wie kommt ihr darauf, dass sich unmittelbar an einer Textstelle für jeden erkennen lässt, worum es bei der Änderung geht?“, fragt einer der alten Polithasen im Plenum und hebt an zu einem Vortrag: darüber, wie legislatives Handeln in der „wirklichen“ Welt aussieht. Er erzählt von den vielen Stellen, an denen Gesetzesnovellen in die Rechtsbücher eingreifen, um ein bestimmtes politisches Ziel zu erreichen, und der nicht zu unterschätzenden Bedeutung der beigefügten Erläuterungstexte. Daniel Reichert sagt: „Das ist eine interessante Frage“.

Auch der Bundesvorstand der SPD war zunächst skeptisch, als Björn Böhning die Idee einbrachte, einen Antrag für den Bundesparteitag Anfang Dezember mit Hilfe von „Adhocracy“ zu schreiben und abzustimmen. Mit welcher Legitimation dürfen Nichtmitglieder überhaupt an einem Antrag mitschreiben? Böhning, der bis vor kurzem Sprecher des linken Parteiflügels war und im Roten Rathaus das Grundsatz- und Planungsreferat von Klaus Wowereit leitet, überredete den Vorstand zu dem Experiment. Im August wurden auf einem SPD-Portal sechs Leitfragen zur Diskussion gestellt, Fragen, aus denen ein Antrag zur Förderung von Existenzgründungen werden sollte. Mitglieder konnten sich ebenso beteiligen wie Nichtmitglieder. Inzwischen hat der Antrag die Antragskommission passiert, er wird auf dem Bundesparteitag vorgestellt. Das Projekt fügt sich gut in die grundsätzliche Richtung der geplanten Parteireform.

Doch zunächst stand die SPD vor der Frage, woher sie die Diskutanten nehmen soll. Der Vorstand schrieb eine Mail an alle Mitglieder, von denen er eine E-Mail-Adresse hat und bewarb die Diskussionsseite in Kreisen, von denen man sich Kompetenz und Interesse erhoffte, etwa auf dem Blog „Gründerszene.de“. Nach sechs Wochen hatten sich 521 Nutzer angemeldet – nicht gerade Massen. Aber: „An jedem anderen Antrag, der auf dem Parteitag vorliegt, sind weniger Leute beteiligt”, sagt Böhning. Immerhin, die Spitze des Eisbergs fabrizierte 88 Vorschläge und 291 Kommentare. Außerdem verlief die Debatte friedlich. „Wir waren uns der Gefahr bewusst, dass wir Trolle anlocken könnten“, sagt Tobias Nehren, der sich als Webadministrator aus der Parteipressestelle beteiligte. Trolle – jeder Webseitenbetreiber kennt sie aus den Foren. Störer, Provokateure, Debattenvernichter. Grundsätzlich gefeit ist „Adhocracy“ dagegen nicht. Doch nur einmal bat die Moderatorin der Diskussion um das Löschen eines Beitrags. Der hatte einfach nichts mit dem Thema zu tun – sondern beschäftigte sich mit dem Straßenbau in Baden-Württemberg. Am Ende schrieben Böhning und andere die Ergebnisse der Debatte zusammen. Zensiert habe man nichts, versichert Böhning. „Unser einziges Kriterium war: Entsprechen die Vorschläge den sozial-demokratischen Grundsätzen? Da gab es nichts zu beanstanden.“

Doch die offene Forum ist auch die offene Flanke des Modells. Was, wenn die Debatte „gekapert“ wird? Solange sie nicht auf stabile Gruppen beschränkt bleibt, erscheinen sie manipulierbar durch jene, die ein Anliegen besonders dringlich vertreten wissen möchten.

Die größte Schwäche der Online-Mitbestimmung sei aber „die Annahme vom politisierten Bürger als Regelfall“, schrieb der CDU-Netzexperte Stephan Eisel auf der Homepage der Konrad-Adenauer-Stiftung. „Letztlich privilegieren solche Vorstöße vor allem Menschen, die Zeit und Kenntnis haben, sich partizipativ einzubringen“, sagt auch der Züricher Politikwissenschaftler Ottfried Jarren. Er nennt den Glauben, alle müssten aktiv an Meinungsbildungen teilnehmen, eine „Mittelschichtsfiktion“, wenn auch eine, die das demokratische System dazu bringe, sich insgesamt zu reflektieren.

Seite 3: Warum das Netz keine Mobilisierungswunderwaffe ist.

Das Netz ist keine Mobilisierungswunderwaffe. Es vermehrt das Interesse nicht automatisch. Das zeigt etwa die Zahl der Petitionen, die beim Bundestag eingehen. Seit 2005 können Bürger ihre Petitionen auch online einreichen, das Portal bietet gleichzeitig ein Diskussionsforum. Die Zahl der Petitionen insgesamt ist allerdings seit der Einführung der „E-Petition“ nicht gestiegen, sie rangiert konstant bei 15 000 bis 20 000 im Jahr. Auch die Zahl der Unterschriften ist nicht nach oben ausgebrochen. Sie kommen allerdings schneller zusammen, und das kann die Regierenden schon mal aufschrecken. Als 2009 eine Petition gegen Internetsperren in wenigen Tagen 134 000 Zeichner fand, klingelte im Petitionsdienst das Telefon, wie ein Mitarbeiter erzählt. Das Innenministerium war am Apparat, „auf Arbeitsebene“, und wollte wissen, was denn da los sei, ob man sich auf etwas einstellen müsse.

Vielleicht geht die Frage aber auch noch darüber hinaus und ist vielmehr eine des Menschen- und Gesellschaftsbilds: Gegeneinander angetreten sind ein skeptisches Weltbild und eins, das den Menschen zwar nicht gut, aber die Mehrheit der Menschen per se „vernünftig“ nennt.

Manchmal macht die Mitbestimmung die Menschen sogar vernünftiger. Das ist zumindest die Erfahrung von Andreas Geisel und er bezieht sich ausgerechnet auf das Königsrecht, die Haushaltspolitik. Der SPD-Mann ist Bürgermeister des Berliner Bezirks Lichtenberg. Und Lichtenberg hat seit einigen Jahren einen sogenannten Bürgerhaushalt. Das Modell wird inzwischen in mehreren europäischen Großstädten ausprobiert, in Deutschland etwa in Köln, Essen und in mehreren Orten Brandenburgs. Die Bürger werden in die Haushaltsdebatte einbezogen, sie können Vorschläge für Ausgaben und Einsparungen machen und über die Vorschläge anderer Bürger abstimmen, auch im Internet.

Oft höre er unpraktikable Vorschläge zur Haushaltsgestaltung, erzählt Geisel – etwa, das Eurofighter-Programm zu streichen, um mehr Geld für die Begrünung zu haben. „Oft haben die Leute auch eine falsche Vorstellung davon, was Dinge kosten, sie denken, ein Spielplatz sei für 10 000 Euro zu haben, dabei kostet das zehnmal so viel.“ Im Netz lernen die Bürger das sehr schnell. Wird ein Vorschlag eingestellt, überprüft die Verwaltung die Kosten und trägt den Betrag ein. „Wir stellen den Bürgern kein Spielgeld zur Verfügung, wir beteiligen sie an allen Möglichkeiten – aber auch an allen Einschränkungen“, sagt Geisel.

Am Ende zeigt sich auch beim Aufklärungsabend der grünen Netzpolitiker, dass das Neue in der Demokratie immer die stabilen Strukturen des Alten braucht. Eine Möglichkeit zur ersten pilothaften Anwendung für die Technik wird gesucht: Möchte man nur in der kleinen Gruppe der Landesarbeitsgemeinschaft experimentieren? Soll ein Antrag für eine Landesdelegiertenkonferenz mit „Adhocracy“ vorbereitet werden? Oder nur eine Weihnachtsfeier? Oder könnte man sogar die Fraktion im Abgeordnetenhaus dazu bringen, das Tool zu testen? „Bei aller Liebe: Aber das können wir uns bei der derzeitigen Situation wirklich nicht erlauben“, raunt der alte Polithase. Und lacht.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false