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Kindesmissbrauch: Die Vertrauensfalle Internet

Unbemerkt von Eltern chatten viele Kinder täglich stundenlang im Internet. Dabei verraten sie wildfremden Menschen intime Details. Männer nutzen dies gezielt aus für ihre sexuellen Phantasien. Im Fall der 13-jährigen Selina Müller führte das zur ganz realen Katastrophe.

Der Computer hat eine abgegriffene Tastatur, der Bürosessel davor ist schäbig. Selinas Eltern verirren sich nur selten hier hoch in den zweiten Stock ihres Häuschens. Sie bekommen nicht mit, mit wem sich ihre 13-jährige Tochter im Internet-Chat trifft. Selina* nennt sich dann „Kleine Lino“ und behauptet, sie sei schon 16. „So wirst du nicht als Kind angesehen“, hat ihr eine Freundin geraten.

Drei bis vier Stunden täglich widmet sich Selina in ihrem Lieblingschat „Schlafsaal“ virtuellen Freunden. Am Valentinstag 2008 kommt ein neuer hinzu: Der Chatter „Bistsosueß“ ist der Einzige, der sich gerade im „Schlafsaal“-Forum aufhält. „Hi, wie geht’s“, schreibt ihm „Kleine Lino“. „Bistsosueß“ antwortet prompt und sendet rote Rosen – virtuelle Blumen, die keinen Cent kosten und mit einem Mausklick verschickt sind. Selina ist trotzdem beeindruckt. „Das war ein Reiz, was Neues“, sagt sie.

Es ist der Beginn einer fatalen Bekanntschaft. Denn Selina Müller lernt mit „Bistsosueß“ – hinter dem Pseudonym versteckt sich ein 53-jähriger Mann – einen skrupellosen Blender kennen, der sich Schritt für Schritt ihr Vertrauen erschleichen und sie schließlich entführen und missbrauchen wird.

Warum fiel sie auf ihn herein? Warum offenbarte Selina einem Fremden intimste Details? Warum lief sie fort, ohne Mutter oder Vater ein Wort zu sagen, und warum stieg sie schließlich zu „Bistsosueß“ ins Auto?

Selina ist kein selbstbewusstes Mädchen. Ihren Körper verbirgt sie unter weiten T-Shirts, ihre grünen Augen hinter braunen Strähnen. Wenn sie spricht, dann mit Wisperstimme. In ihrer Familie ist sie die Jüngste – und das schwächste Glied. Schon als kleines Kind fühlt sie sich ihren älteren Geschwistern Sophie, Annika und Andy gegenüber zurückgesetzt. Besonders eifersüchtig ist sie darauf, dass Sophie, die schwer krank zur Welt kam, all die Aufmerksamkeit der Eltern bekommt.

Vater Jürgen Müller, 46, arbeitet als Drucker im Schichtbetrieb. Mal nachts, mal tags, mal am Wochenende, mal an Weihnachten. Die vier Kinder sieht er selten. Auch Mutter Barbara arbeitet Schicht – in der Küche eines Altenheims, oft samstags und sonntags. Neben diesem 400-Euro-Job putzt sie wöchentlich 15 Stunden bei Privatleuten. Es reicht dennoch nur alle Jubeljahre für einen Kurzurlaub, der blaue Fiat Kombi der Familie ist 15 Jahre alt, aber in dem Klinkerbau am Rand eines Dorfes in Nordrhein-Westfalen wollen die Müllers bleiben, auch wenn sie dafür Überstunden leisten müssen.

Männer wie „Bistsosueß“ haben ein feines Gespür für solche Gefühlslagen. Nachdem seine virtuellen Rosen so positiv angekommen sind, legt er nach – und schickt ein Foto von sich. Dessen Qualität ist miserabel, das Gesicht verschwommen. Selina kann nur eine Gestalt in Sportkleidung erkennen. 32 Jahre sei er alt, heiße Harald, arbeite für ein Logistikunternehmen und sehe gut aus. Selina glaubt ihm, den großen Altersunterschied findet sie nicht schlimm. „Bistsosueß“ versteht es, dem Mädchen zu geben, was es sucht: Einen interessierten, geduldigen Zuhörer, der mit den Geschichten aus seinem angeblich so spannenden Leben etwas Freude in ihren tristen Alltag bringt.

Auf Seite 2: Das Mobbing der Mitschüler

Selina erinnert sich gut, wie er ihr geraten hat, das Mobbing der Mitschüler, unter dem sie damals leidet, zu ignorieren und mit den Lehrern zu sprechen. „Aber er hat auch immer etwas von sich erzählt“, sagt sie. „Dass er viel feiert und oft mit seinen Freunden unterwegs ist. Das finde ich gut, wenn man mich nicht nur ausfragt.“

In der Realschule, in der sie damals die neunte Klasse besucht, ist Selina eine Außenseiterin. Bis zur siebten Klasse habe sie noch ein paar Freundinnen gehabt. Doch als sich Cliquen bilden, gehört sie plötzlich nirgendwo dazu. Im Unterricht sitzt sie allein an einem Tisch, bei Gruppenarbeiten will sie niemand dabei haben. Sticheleien beginnen, erst leise, dann derber. „Du Opfer“ oder „du bist dreckig und stinkst“. Im Schulbus wird sie mit Papierknäueln und Radiergummis beworfen. Wenn die Mädchen in Selinas Klasse mit ihrem Freund angeben, hört sie neidisch zu. Sich an einen Lehrer oder die Eltern zu wenden „wäre mir echt peinlich gewesen“.

Für Barbara und Jürgen Müller sind Selinas Noten Beweis genug, dass in der Schule alles in Ordnung ist. Sie schreibt Zweien und Dreien, und Mutter Barbara meint: „Wenn sie notenmäßig abgesunken wäre, hätten wir uns Sorgen gemacht. Aber so dachte ich mir nichts.“ Selina beschränkt sich auf die nötigsten Informationen. „Ich habe viele Hausaufgaben“, oder: „Wir machen bald einen Klassenausflug.“ Den Eltern reichen diese Auskünfte. Sie selber würde ja auch nichts von ihren Job-Sorgen zu Hause erzählen, sagt die Mutter. Erwähnt Selina mal, dass sie geärgert worden sei, tun die Eltern dies als „die normale Kinderei“ ab. „Sie kam ja nie heulend nach Hause“, sagt Barbara Müller.

Das Mädchen zieht sich immer mehr zurück. „Ich war fast nur noch auf meinem Zimmer“, erinnert sich Selina. Einzig Schulkameradin Juliane, die zu Hause nicht durchs Internet surfen darf, kommt zu Besuch. Vom Familien-PC klicken sich die Mädchen Tag für Tag in Internet-Chats ein. Und bald begibt sich „Kleine Lino“ alleine in den Schlafsaal.

„Bistsosueß“ schreibt ihr, seine Eltern seien vor kurzem bei einem Autounfall gestorben. „Das hat mein Mitleid geweckt“, erinnert sich Selina. Der andere nutzt dies geschickt. Seine Mails werden anzüglicher, seine Fragen intimer, obwohl das Mädchen ihm längst gestanden hat, dass sie erst 13 ist. „Mein süßes mäuschen, ich liebe dich so sehr was möchtest du denn machen, wenn du bei mir bist“, schreibt er. Und noch am selben Tag die Frage: „Möchtest du mit mir schlafen?“ Immer wieder versichert er Selina seine Liebe: „Ich vermisse dich so sehr“, und: „ich liebe dich so sehr, möchte nicht mehr ohne dich sein, dich immer in meinen Armen haben.“ Er verlangt Fotos von ihr, sie schickt ihm zwei. „Er war einfach so nett zu mir“, sagt sie. Und, fast trotzig: „Ich habe ihm vertraut.“

Selinas Eltern registrieren zwar, dass ihre Tochter oft am Computer sitzt. Doch sie erfahren nichts von der Existenz eines „Bistsosueß“. Vater Jürgen vertraut der Kindersicherung des Betriebssystems: „Seiten mit Sex oder rechtsradikalem Inhalt habe ich gesperrt.“ Langsam streicht er über seinen Bart, schaut zu seiner Frau: „Oder Barbara?“ Die nickt. „Ich hätte nie gedacht, dass da irgendwas im Busch ist. Ich dachte, die chattet mit ihren Freundinnen.“

Ungewöhnlich ist diese Familiensituation nicht. Eine universitäre Studie zeigt: Nicht einmal jedes zehnte Kind, das virtuell belästigt wird, redet mit Erwachsenen darüber; jedes zweite Mädchen in Selinas Alter kennt sexuelle oder pornografische Anmache im Internet, auch durch Filme und Bilder.

Bald läuft der Kontakt zwischen der „kleinen Lino“ und „Bistsosueß“ auch übers Telefon, nachdem er ihr eine Pre-Paid-Karte für ihr Handy geschickt hat. Selina schöpft keinen Verdacht, im Gegenteil. Sie ist begeistert über so viel Aufmerksamkeit, endlich scheint sich jemand ernsthaft für ihre Sorgen zu interessieren. Sie mag diese Stimme, dieses Mitgefühl. „Wir haben immer öfter über intime Dinge gesprochen.“ Verschämt schaut sie auf den Boden. „Ich habe ihm fast alle Fragen beantwortet. Am Anfang war es nur so jemand, der mir zuhört. Dann halt mehr.“

Irgendwann schlägt „Bistsosueß“ vor, zu ihm an den Bodensee zu ziehen. So könne Selina mal dem Mobbing in der Schule entfliehen. Er werde das Jugendamt um Erlaubnis bitten. Das Mädchen, mittlerweile 14 Jahre alt, lässt ihn abblitzen. Doch schon nach wenigen Tagen ändert sie ihre Meinung. „Es wurde dann doch zu heftig in der Schule. Ich habe ihm gesagt, mach mal.“

Und „Bistsosueß“ macht. Das Jugendamt habe sein O.K. gegeben, behauptet er. Am 11. April um sieben Uhr morgens werde er sie an einer Bushaltestelle in ihrem Dorf abholen. „Bistsosueß“ schärft seiner Chatpartnerin ein, niemandem etwas davon zu verraten. Selina weiht allein Freundin Juliane ein. „Die fand das cool.“ An jenem Morgen steht Selina um sechs Uhr auf. Kurz nach sieben klingelt ihr Handy, „Bistsosueß“ will wissen, warum sie noch nicht an der Bushaltestelle sei, er warte. Selina verlässt das Haus, ohne der Mutter den gewohnten Abschiedskuss zu geben.

An der Bushaltestelle, nur wenige hundert Meter vom Elternhaus entfernt, wartet ein Mann in einem silbernen Kleinwagen. Selina erschrickt. „Der hatte Falten und ganz graue Haare!“, erinnert sie sich. Der sonst so verständnisvolle „Bistsosueß“ ist wortkarg, er öffnet die Beifahrertür. Selina zögert, will am liebsten davonlaufen, versucht den Mann wegzuschubsen. Doch er hält sie fest, schiebt sie auf den Beifahrersitz, schließt ab, die Kindersicherung verhindert eine Flucht. Um Hilfe zu rufen, traut sich Selina nicht.

„Bistsosueß“ fährt los und schweigt. Wohin es geht, was er mit ihr vorhat, verrät er nicht. Während der stundenlangen Fahrt versucht er, Selina zu begrabschen, das Mädchen hält ihn fern.

Nach rund acht Stunden ist „Bistsosueß“ am Ziel, der Wohnung eines Bekannten. Was dort genau geschah, will Selina nicht erzählen. Nur so viel: „Er hat mich zweimal vergewaltigt. Ich habe mich gewehrt, er hat mich festgehalten.“

Zu Hause machen sich unterdessen ihre Eltern Sorgen. Es ist 16 Uhr, Selina ist noch nicht aufgetaucht. Eine Freundin ruft an, Selina sei nicht in der Schule gewesen. Panik steigt in Mutter Barbara auf, die Eltern erstatten Vermisstenanzeige. Sie wissen, dass die Tochter oft chattet, im Internet erhoffen sie sich Hinweise darauf, wo sie steckt.

Sie haben Glück. Der Entführer befiehlt ihr am nächsten Morgen, Schwester Annika in einer E-Mail zu erklären, dass sie zu einer Freundin gefahren sei. Die sonst so mutlose Selina nutzt die Chance. „Anders als sonst habe ich auf die korrekte Rechtschreibung geachtet, sonst mache ich viele Flüchtigkeitsfehler.“ Der Trick gelingt: Die Müllers werden misstrauisch, auch weil sie die erwähnte Freundin nicht kennen. Sie fragen Juliane, die als Einzige von „Bistsosueß“ weiß, über die Chatpartner ihrer Tochter aus. Unter Tränen verrät Juliane den Namen des Mannes. Mittlerweile hat der naive Entführer seinem Opfer die Adresse der Wohnung verraten – „aber sag es niemandem weiter“. Als er für einen Augenblick in die Küche geht, gelingt es Selina, per Handy ihren Aufenthaltsort durchzugeben.

Ihre Eltern alarmieren die Polizei, die Selina am Nachmittag des 12. April befreit. „Bistsosueß“ entpuppt sich als der arbeitslose Chemie-Facharbeiter Harald H. aus Sachsen-Anhalt, den es 2002 an den Bodensee verschlagen hat. Stunden hatte der 53-Jährige seitdem jeden Tag im Internet verbracht und sich, auch unter Pseudonymen wie „Schmusebaer“ oder „binlieb24“, an Mädchen herangemacht.

Im Prozess vor dem Landgericht Konstanz Ende 2008 kam heraus, dass der geschiedene Vater von vier Kindern die 16-jährige Susanne T. dazu gebracht hatte, mit ihm per E-Mail Nacktfotos auszutauschen. Harald H. schickte der Schülerin Nahaufnahmen seines erigierten Penis. Das Mädchen, das wie er in der Bodenseeregion wohnt, sagte aus, sie sei wenige Tage später zu Harald H. gefahren, wo er sie „zum Sex überredet“ habe. Das Gericht verurteilte ihn nur wegen Verbreitung pornografischer Schriften.

Seite 3: Mangel an Beweisen

Glimpflich kam er auch im Fall Selina davon. Denn das Mädchen hatte erst in der dritten Befragung erklärt, sich gegen den Geschlechtsverkehr gewehrt zu haben. Das Gericht wusste nicht, welcher Version der 14-Jährigen zu glauben wäre und sprach Harald H. aus Mangel an Beweisen vom Vorwurf der Vergewaltigung frei; verurteilt wurde er zu 21 Monaten Gefängnis, Haftende März 2010. Auch das Verhalten von Selina während der Entführung hatte für den Angeklagten gesprochen, weil sie mehrfach die Chance hatte zu entkommen. Ihre Anwältin kritisiert das Urteil. „Das Mädchen war in einem Schockzustand und war froh, dass sie dort rausgekommen ist“, sagt Silke Vieten. „Deshalb hat sie erst nicht alles erzählt. Aber da Selina nicht noch einmal gegen den Mann aussagen wollte, haben wir auf eine Revision verzichtet.“

Joachim Weimer, der Vorsitzende Richter, machte in seiner Urteilsbegründung deutlich, was er vom Gebaren dieses Angeklagten hält, der im Internet chatte, „um junge Mädchen zu sich ins Bett zu bringen“. Auch bei Selina habe er nur sexuelle Kontakte im Sinn gehabt. Dafür habe er mit „großer List“ dem Mädchen „den Lover vorgespielt, der sie auf Händen trägt“. Harald H. habe sich nicht um Arbeit bemüht, sondern nur jeden Tag stundenlang vor dem Computer gehockt. „Die reale Welt spielt für Sie offenbar keine Rolle.“

Wie kann ein Mädchen so etwas verarbeiten? Selina war in psychologischer Behandlung, doch viel habe das nicht gebracht, erzählt sie. Wichtiger war Schwester Annika, an die sie sich nach der Rückkehr geklammert hat. „Selina hat wochenlang nur noch in meinem Bett geschlafen“, sagt Annika. Ihren Eltern dagegen will Selina bis heute nichts über die Stunden in der Wohnung des Entführers berichten, sie schämt sich.

Mutter und Vater haben ihre Lehren gezogen. Barbara Müller hat einen ihrer Jobs gekündigt, um mehr Zeit für die beiden jüngsten Töchter zu haben. Doch all das konnte Selina eines nicht nehmen: die Angst vor der Freilassung ihres Peinigers. Im Herbst 2009 bittet sie ihre Eltern immer wieder: Ich möchte umziehen. Kurz vor dem Haftende von Harald H. hält es das Mädchen nicht mehr aus, schließlich kennt er ihre Adresse.

Inzwischen lebt Selina deshalb weit weg von zu Hause, in einem Jugendwohnheim. Sie hat die Mittlere Reife geschafft und eine Lehre angefangen. Wenn man heute mit ihr spricht, erzählt sie, sie fühle sich das erste Mal seit langem gut – und vor allem sicher. Sie chattet zwar noch, aber nur mit Leuten, die sie kennt. „Allen anderen“, sagt Selina, „schreibe ich zurück: kein Interesse.“

* Die Namen aller Kinder und Eltern im Text wurden geändert.

Malte Arnsperger

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