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© Terry Foote

Wikipedia: Herrscher des Wissens

Mit der Online-Enzyklopädie Wikipedia revolutionierte er den Umgang mit Wissen im Internet. Nun greift er mit einer neuen Suchmaschine den Internet-Riesen Google an. Ein Gespräch mit Wikipedia-Gründer Jimmy Wales.

DIE ZEIT:

Herr Wales, Sie sind berühmt geworden durch Ihren Kampf, den Sie mit Ihrer Online-Enzyklopädie Wikipedia gegen klassische Lexika wie Britannica oder Brockhaus begonnen haben. Wer führt?

Jimmy Wales: Oh, ich glaube, wir haben längst gewonnen. Wir sind um so vieles größer und haben so viel mehr Nutzer.

ZEIT: Mit Wikipedia haben Sie die Produktion von Wissen in die Hände der Masse gelegt, denn an Wikipedia kann jeder mitschreiben. Ihr nächster Gegner ist Google. Ihre Firma wikia.com wird in diesen Tagen eine Basisversion einer Suchmaschine online stellen, an der nach dem bewährten Prinzip wieder alle mitarbeiten sollen. Sie haben nicht gerade Angst vor großen Gegnern.

Wales: Als Bürger des Internets müssen wir Transparenz und Offenheit gewährleisten. Im Moment sind aber alle Suchmaschinen geschlossene Systeme, die jeweils einer Firma gehören. Und diese Firmen entscheiden, wie sie Webseiten bewerten. Sie entscheiden, wie wir die Welt sehen sollen. Und wir haben keine Ahnung, wie sie das machen. Ich will eine Suchmaschine entwickeln, deren Algorithmus jedem zugänglich ist. Und ich will jede Entscheidung von der Gemeinschaft treffen lassen. Fragen wie: Wann blockiert man eine Seite, ab wann ist etwas Spam, wie bewertet man generell die Qualität einer Seite?

ZEIT: Und wie hat man sich das konkret vorzustellen?

Wales: Ganz einfach, wenn Sie die Suchmaschine benutzen und mit dem Ergebnis nicht zufrieden sind, weil die zuoberst angegebene Seite inhaltlich schlecht ist, können Sie die Seite als Spam markieren. Wenn die Seite von drei oder vier weiteren Leuten ebenfalls so markiert wird, dann wird sie entfernt. So kann man nach und nach die Suchmaschinen verbessern.

ZEIT: Teile der Gemeinschaft könnten doch korrupt sein und sich von einer Firma bezahlen lassen, um die Webseiten der Konkurrenten schlecht zu bewerten.

Wales: Auf Wikipedia haben wir dieses Problem ganz gut in den Griff bekommen. Man guckt sich solche Benutzer über einen gewissen Zeitraum an, und wenn das Verhalten zu eindeutig korrupt ist, sperren wir diese Leute.

ZEIT: Wenn Sie „wir“ sagen, meinen Sie ein Heer von Freiwilligen. Von ihnen wird all die Arbeit bei Wikipedia gemacht. Wie bewegt man Menschen dazu, umsonst zu arbeiten?

Wales: Wir verstehen, dass manche Leute freiwillig am Wochenende Basketball spielen. Keiner sagt: Um Gottes willen, die spielen ja umsonst, während Profis dafür viel Geld kriegen. Für mich wäre es eine Strafe, müsste ich Basketball spielen. Ich bin nicht besonders groß. Aber niemand hat bislang daran gedacht, dass es manchen Leuten Spaß macht, eine Enzyklopädie zu schreiben. Man arbeitet den ganzen Tag, und am Abend setzt man sich vor den Computer und trifft auf Wikipedia interessante Leute, mit denen man über interessante Themen diskutiert. In der englischen Wikipedia gibt es zum Beispiel zu allen UBahn-Stationen in London einen Artikel, geschrieben von Fans. Und die Qualität dieser Einträge ist viel besser als alles, was ein bezahlter Autor geschrieben hätte, der kein Interesse an dem Thema hat.

ZEIT: Ihr neues Projekt Wikia soll nicht nur eine Suchmaschine sein, sondern man wird auf der Internetseite, wie auf Wikipedia, auch Texte zu einem bestimmten Thema schreiben können. So wird man zum Thema Depression persönliche Geschichten und zum Thema New York City Reiseratschläge finden. Ihre Firma verdient Geld, indem sie um diese Inhalte Werbefläche verkauft – anders als bei Wikipedia, wo niemand etwas verdient. Werden sich die Leute nicht ausgenutzt fühlen?

Wales: Nein, ich glaube, viele Web-2.0-Unternehmen machen einen großen Fehler, weil sie glauben, ihr Geschäftsmodell bestehe darin, Leute dazu zu kriegen, umsonst zu arbeiten. Aber die Leute, die bei mir ihre Muppet-Show-Seite vollschreiben, arbeiten nicht. Die haben einfach Spaß.

ZEIT: Wenn Leute eine Arbeit verrichten, dabei Spaß haben, und Wikia macht mit dieser Arbeit Geld, ist das nicht einfach gut verpackte Ausbeutung?

Wales: Ich glaube, wir sind einfach zu verseucht von dem Gedanken, alle Menschen seien geldgierig und gewinnsüchtig. Sehen Sie es doch mal so: Ich bin jemand, der eine Kegelbahn zum kostenlosen Kegeln anbietet. Normalerweise bezahlen Menschen, um kegeln zu können. Bei mir können sie es umsonst machen. Und wie beim Kegeln bilden sich auf Wikia Gruppen, Teams, Fans, Freunde. In einer Kegelbahn bezahlt man dafür. Für Wikia macht es mehr Sinn, wenn sie uns damit bezahlen, dass wir auf ihren Seiten Werbung schalten dürfen.

ZEIT: Wo sind die Grenzen eines solchen Unternehmensmodells?

Wales: Im Journalismus gibt es Dinge, die Freiwillige nicht machen können. Ein Bürgerjournalist kann gut über Sport schreiben: Es gibt viele Sportfans, und die Sportereignisse sind öffentlich, da kann jeder hingehen. So was macht Spaß. Aber es wird schwer sein, Freiwillige für richtig langweiliges Recherchieren auf der untersten Ebene zu bekommen. Rathaussitzungen zum Beispiel, in denen in 90 Prozent der Fälle nichts passiert. So etwas macht nur ein politischer Aktivist freiwillig, und da fehlt dann die Objektivität, die man in der Zeitung bekommt. Oder Kriegsreportagen. Das macht auch niemand freiwillig und wenn doch, dann hätte er nicht die riesige Infrastruktur eines Zeitungsreporters: Fahrer, Sicherheitsleute, Übersetzer.

ZEIT: Wenn aber in Zukunft all das, was Spaß macht, von Freiwilligen geschrieben wird, und nur das teure, langweilige und gefährliche Berichten für die Zeitungen übrig bleibt, wie soll eine Zeitung unter solchen Umständen überleben?

Wales: Ich glaube, dass es in der Zukunft ein Hybridmodell geben wird. Zeitungen können durch den Einsatz von Bürgerjournalisten Kosten senken – sie brauchen nicht mehr so viele teure Schreiber. Ich kann mir gut vorstellen, dass das zum Beispiel im Sportjournalismus gut funktioniert.

ZEIT: Aber es ist nicht wirklich vorstellbar, dass in einer Zeitung die Sportberichterstattung umsonst gemacht wird und die Lokalberichterstattung von bezahlten Journalisten? Jeder Bürgersportjournalist wird doch nach einer gewissen Zeit sagen: Augenblick mal!

Wales:Es gäbe immer genügend andere, die seinen Job machen würden.

ZEIT:Journalismus ist von einer gewissen Zuverlässigkeit abhängig. Ist auf Bürgerjournalisten Verlass?

Wales: Nun, wenn wir uns anschauen, was schneller überarbeitet wird, Wikipedia oder die Zeitungen, dann haben wir schon einen Teil der Antwort. Wenn eine große Gemeinschaft an der Produktion von Information beteiligt ist, können die meisten Fragen der Zuverlässigkeit leicht gelöst werden.

ZEIT: Und wenn keiner mehr Lust hat, an einem Lexikon oder in einer Sportredaktion zu arbeiten, gibt es eben kein Lexikon und keine Sportreportagen mehr?

Wales: Ich nehme an, das stimmt.

ZEIT: Dieses Modell der freiwilligen Arbeit im Internet erinnert ein bisschen an eine Onlineversion der chinesischen Wirtschaft. Die Maschinen kosten zwar etwas, aber die Arbeit ist umsonst.

Wales: Man hört mittlerweile ja oft den Begriff crowdsourcing. Also anstatt dass man die Arbeit in ein billigeres Land outsourct, crowdsourct man, man lässt die Masse umsonst arbeiten. Ich empfinde diesen Begriff als sehr beleidigend für Leute, die in einer Gemeinschaft arbeiten, weil sie an die Kraft der Gemeinschaft glauben. Für die Basisversion unserer Suchmaschine haben wir außerdem einige Ingenieure und Programmierer angestellt.

ZEIT: Was halten Sie von dieser Form des Crowdsourcings: Procter & Gamble beschäftigt 7500 Wissenschaftler. Um schneller und billiger zu Lösungen zu kommen, hat die Firma einige ihrer Probleme auf die Webseite innocentive.com gestellt. Dort sollen Wissenschaftler Lösungen für Probleme anbieten. Für die beste wird eine Belohnung bezahlt.

Wales: Solche Belohnungssysteme sind nicht besonders erfolgreich. Es nehmen nicht so viele Leute daran teil, und die Qualität ist nicht so hoch. Denn wer urteilt darüber, welche Lösung die beste ist? Es ist wieder nur eine kleine Gruppe und nicht die ganze Gemeinschaft.

ZEIT: Als Sie den Aufruf für Ihre Suchmaschine auf Wikia starteten, wer hat sich da gemeldet?

Wales: Viele Doktoranden, die an Software arbeiten, die menschliche Sprache erkennen und verstehen kann – und die keinen Zugang zum Algorithmus einer Suchmaschine haben.

ZEIT: Wenn sie ihren Doktor gemacht haben, gibt es bei Wikia keinen Job für sie.

Wales: Nein, die bewerben sich dann wohl eher bei Google.

ZEIT: Aber wenn Ihre Suchmaschine gut funktioniert, wird es dann vielleicht irgendwann Google nicht mehr geben?

Wales: Oh nein. Google verdient sein Geld nicht mit der Suchmaschine, sondern mit der Werbung, die geschaltet wird. Und Google erfindet ja auch ständig neue tolle Produkte wie google.maps oder google.docs. Das ist das Geschäft – es verändert sich ständig.

ZEIT: Ihr Vater hatte einen Lebensmittelladen, Sie waren Optionshändler und sind nun Internetunternehmer. Was für einen Beruf wird Ihre siebenjährige Tochter Kira in 20 Jahren mal haben?

Wales: Sie lernt gerade etwas über DNA und Genetik. Vor zwei Nächten hat sie mir gesagt, dass sie die erste Wissenschaftlerin werden will, die ein ganz neues Tier erfindet.

Die Fragen stellte Kerstin Kohlenberg Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von zeit.de.

Kerstin Kohlenberg

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