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Unser Autor.

© Mike Wolff

Zu PAPIER gebracht: Charakterschule Internet

Glaubt man einschlägigen Berichterstattern und Experten, bringt das Internet die dunkelsten, hässlichsten Seiten des Menschen zum Vorschein...

Was mussten wir nicht alles über Cybermobbing und Trollattacken lesen. Lebte mein Opa noch, selbst er wüsste inzwischen, was ein Shitstorm ist. Und es stimmt ja auch: Die vermeintliche Anonymität beim Surfen verleitet manche Menschen dazu, ihre nette Real-Life-Fassade abzulegen und sich ganz wie die Arschgeigen aufzuführen, die sie nun mal sind.

Fun Fact: Das ist nur die halbe Wahrheit. Viel zu wenig gewürdigt wird leider, dass dieses Internet auch alle angenehmen Charakterzüge eines Menschen sichtbar macht. Etwa: Selbstlosigkeit, Hilfsbereitschaft, Rücksichtnahme, Neugierde. In Fachforen erklären sich Nutzer gegenseitig und mit unendlich viel Geduld, welche Präparate tatsächlich gegen Haarausfall helfen, welche Hotels an der Costa Brava eklig sind oder wie man Computerviren loswird. Auf flickr verschenken manche Fotografen ihre Aufnahmen, verlangen nicht einmal, dass man bei Weiterverwendung ihren Namen nennt. Hunderttausendfach beweist das Netz täglich, dass Menschen eben nicht bloß auf Profite oder sonstige Vorteile aus sind. Das mag jetzt zugespitzt klingen, doch wer seinen Glauben an die Menschheit wiederherstellen will, muss ins Internet gucken. Natürlich auf die richtigen Seiten.

Auch die Umgangsformen sind bei genauerem Hinsehen oft besser als behauptet. Das fiel mir gerade erst wieder auf: Vergangenen Sonntag startete in den USA die letzte Staffel meiner Lieblingsserie, der großen Chrystal-Meth-Saga „Breaking Bad“. Viele haben es sich gleich am nächsten Tag gestreamt, das Netz ist jetzt voll von Hommagen, Zitaten, Spielereien und originellen Theorien. Doch kein einziger Kommentar, den ich las, hat bislang die Handlung verraten und so allen, die auf den Start der deutschen Version warten wollen, den Spaß verdorben.

Spoilern verboten - nur im Internet hält man sich dran

Das Prinzip, nicht zu spoilern, ist eine Tugend, die im wahren Leben leider noch nicht angekommen ist. Das Ende von „Blair Witch Project“, das Geheimnis Tyler Durdens, der Ausgang des Romans „Tschick“, alles wurde mir von unaufmerksamen oder tollpatschigen Mitmenschen verraten. Gerade erst musste ich im Büroflur einem netten Kollegen ins Wort fallen, damit er mir nicht den Clou des kommenden Hollywoodfilms „300: Rise of an Empire“ verrät – wohlgemerkt eine Minute, nachdem ich ihm erklärt hatte, wie sehr ich mich auf den Streifen freue! Im Internet wäre mir das niemals passiert.

Angesichts der Fülle wissenschaftlicher Studien über das Internet verwundert es, dass sich noch keiner daran gewagt hat, dessen positiven Einfluss auf den menschlichen Charakter zu untersuchen. Dabei wäre das Thema so ergiebig. Ich meine, im Ernst: Das Internet bringt selbst übelste Machos dazu, sich die Niedlichkeit von Katzen einzugestehen.

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