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Doku: Das Elendsdeutschland

Für eine Doku auf Arte wurde eine Nachkriegs-Reportage wieder entdeckt. Michael Gaumnitz hat Eindrücke von Stig Dagerman auf den Bildschrim gebracht.

Einigen sitzt der Herbst 1946 vielleicht noch in den Knochen. Vermutlich war er so kalt, wie ihn Stig Dagerman beschrieben hatte. Und vor allem so nass. Der schwedische Journalist war damals von Stockholm nach Deutschland geflogen, um aus Hamburg und aus Berlin, aus Dortmund, Essen, Stuttgart, aus Frankfurt und aus München zu berichten. Demokratische Wahlen, die ersten seit 1933, standen an. Den Deutschen aber, so Dagerman, stand das Elend bis an den Hals. Und die Nässe bis an die Knöchel.

Michael Gaumnitz, Autor von Dokumentarfilmen, tat gut daran, Dagermans Reportage wiederzuentdecken. Gedruckt lag sie zwar, auch ins Deutsche übersetzt, vor (zuletzt im Suhrkamp Verlag 1987), hatte sich aber nie großer Beliebtheit erfreut. Zu schwarz war das Bild, das Dagerman von der Besatzungspolitik zeichnete. Der Sieg der Alliierten sei nicht der Sieg der Nazi-Gegner gewesen, lautete eine seiner streitbaren Diagnosen. Eine andere: Dass „die deutsche Not“, der von den Besatzungsmächten verantwortete Mangel an Wohnung und Nahrung, wenig tauge, um die Deutschen zu entnazifizieren. Wie aber waren Dagermans Einblicke auf den Bildschirm zu bringen? Der Journalist hatte nicht fotografiert, geschweige denn gefilmt. Gaumnitz sucht also nach Archivaufnahmen, die zu Dagermans Bericht passen könnten. Er akkumuliert Bilder von Trümmerwüsten und von Trümmerfrauen, von Notunterkünften, von leeren Lebensmittelgeschäften, von schwarzen Märkten und von Menschen, die hastig etwas Reisig zusammenklauben.

Das erscheint stimmig, hat jedoch gelegentlich einen Zug zur Sentimentalität, wenn nicht zur Larmoyanz. Fragwürdig werden die Bilder von den Zügen und Bahnhöfen, die der Filmautor versammelt. Waggons zeigt er da, in denen Menschen gepfercht sind. Es ist ein Motiv, das den Zuschauern vertraut vorkommt. Sie kennen es aus unzähligen Spielfilmen und historischen Dokumentationen, die die Judentransporte veranschaulichen. Und sie sehen jetzt, gleichsam in denselben Güterwaggons, Deutsche nach dem Kriege. Als wäre ihr Schicksal dasselbe wie das der unter der NS-Herrschaft Deportierten. Einen solchen Eindruck zu erwecken, ist illegitim, neigt zur Verfälschung und entspricht nicht der kritischen Sicht, die Dagerman der Besatzungspolitik zuteil werden lässt. Ein Detail spricht für sich: Dagerman schreibt von einer entnervten Menschenmenge auf dem Bahnsteig im Regen. Gaumnitz hatte dafür offenbar keine passgenaue Archivaufnahme gefunden. Stattdessen sehen wir ein paar Wartende, unter ihnen ein schreiendes Kind. Dazu hören wir, vom Tonstudio eingespielt, strömenden Regen. Und vor die Archivbilder sind Striche montiert. Vielleicht, dürfen wir vermuten, war die Neigung zur Illustration größer als der Respekt vor dem historischen Material. Hendrik Feindt

„1946, Herbst in Deutschland“,

Arte, 21 Uhr

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