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Empört reagieren Dokumentarfilmer, dass Formate wie die RTL-„Schulermittler“ (Samstag, 17 Uhr 45) unter dem gleichen Label laufen dürfen wie...

© RTL

Doku-Soaps: Wahrheit als Ware

Wo Reality drauf steht, steckt im Fernsehen nicht immer die Realität drin. Manche Formate biegen sich das echte Leben zu Recht, "Panorama" sprach kürzlich sogar vom "Lügenfernsehen". Warum die Grenzen zwischen echten und inszenierten Dokumentationen immer mehr verschwimmen.

Das Fernsehen hat seit seiner Geburt eine tiefe Sehnsucht nach der Realität. Wo es etwas Neues gab, wollte es mit von der Partie sein. Realität aber ist noch mehr und anderes als Nachrichten. Sie ist das Leben der Menschen draußen, und so haben sich all die Formate entwickelt, die davon leben, dass Echtmenschen befragt, belauscht oder dargestellt werden, insgeheim oder offen, bedrängend oder gelassen, eingreifend oder zurückhaltend.

Das „Reality-TV“ hat sich in mannigfache Unterarten ausdifferenziert: von der Dokusoap über die Dokufiction bis zur Scripted Reality. Doch die Menschenfischer scheitern immer wieder an derselben Klippe: der Realität, die sich unweigerlich verändert,  während sie eingefangen, ausgeformt und schließlich gesendet wird. Es gibt keine Unmittelbarkeit der Wiedergabe. Das ist die Unschärferelation des Mediums zur Welt: Die Anwesenheit der Kamera verurteilt jeden Realitätsausschnitt, der ihr vors Objektiv kommt, zum Artefakt.

Aber was heißt hier scheitern? Ein Gutteil der TV-Dokumentaristen, die das wirkliche Leben einfangen wollen, legen ihrem Publikum nahe, dass die Artefakte, die sie ihm anbieten, das wirkliche Leben tatsächlich spiegeln. Das Publikum ist verständnisvoll genug, die Anwesenheit der Kamera als Unschärfe zu akzeptieren und zu vergessen.Ganz im Gegenteil zum anspruchsvollen Dokumentarfilm, der die Unschärfe mitreflektiert und oft genug den Filmemacher selbst ins Bild bringt oder zumindest als Offstimme dabei sein lässt, können die Reality-Formate auf die stillschweigende Verabredung mit dem Publikum bauen: dass das, was sie da in den „Verdachtsfällen“, bei den „Schulermittlern“, bei „Mitten im Leben“ oder „Familien im Brennpunkt“ ( alle RTL) zu sehen kriegen, irgendwie aus dem Leben gegriffen sei, und wenn abgeändert, nachgestellt oder gar gänzlich ausgedacht, so doch der Realität so nahe verwandt wie ein Foto oder eine gemalte Landschaft dem tatsächlichen Schauplatz. Kürzlich geißelte eine „Panorama“-Sendung solche Formate als „Lügenfernsehen“ – wobei das Ethos der Wahrhaftigkeit, das Reality-Programm-Erfinder nie hatten, solchen geskripteten TV-Soaps und ihren Autoren übergestülpt wurde.

...die Doku „Geschlossene Gesellschaft“ (am Dienstag, 22 Uhr 45, ARD), die den Missbrauch an der Odenwaldschule aufarbeitet und unter anderem das ehemalige Vorstandsmitglied Benita Daublebsky zu Wort kommen lässt.
...die Doku „Geschlossene Gesellschaft“ (am Dienstag, 22 Uhr 45, ARD), die den Missbrauch an der Odenwaldschule aufarbeitet und unter anderem das ehemalige Vorstandsmitglied Benita Daublebsky zu Wort kommen lässt.

© SWR/zeroone

Die Großzügigkeit des Publikums, das sich für die „Echtheit“ einer Dokusoap erst interessiert, wenn Fälschungen in einen Skandal münden, über die Kluft zwischen inszenierten und tatsächlichen Miseren in Familien, Schulen, Beziehungen oder Restaurantküchen hinwegzusehen, hat zu einer Spaltung des dokumentarischen Fernsehens in zwei Lager geführt: die seriösen Macher inklusive der Reporter auf der einen Seite, deren Ethos sie dazu verpflichtet, das Material nicht zu manipulieren, sondern so vorzuzeigen, wie sie es angetroffen haben. Und die Reality-Anbieter und Dokusoap-Macher auf der anderen Seite, die sich auf die Sehnsucht des Fernsehens und seines Publikums nach Realität draufsetzen und dann etwas präsentieren, was weit über die Unschärfe hinausreicht von der raffinierten Verzerrung bis zum dreisten Fake.

Man versteht die Empörung der Dokumentarfilmer, die für ein historisches Portrait oder einen Filmessay jahrelang arbeiten, Geld vorstrecken und es dann noch immer schwerer haben, Sendeplätze für ihre Werke zu finden, wenn namenlose Autoren Sendungen wie „Schulermittler“ einfach fingieren und dann „Doku“ nennen dürfen. Dieses Wort, ob in der Abkürzung oder voller Länge, ist nicht geschützt, aber sowie das Wörtchen „Soap“ folgt, ist eigentlich klar, wo der Hase langläuft.

Die zwei Doku-Lager kommen allmählich beide zu der Einsicht, dass die Übergänge zwischen „echter“ Doku und Pseudodoku verschwimmen, dass eine saubere Trennung schwierig ist und sich aus den Hybridformaten Weiterungen und Trends ergeben, die das Programm auch bereichern können. So etwa die „Reenactments“ in dokumentarischen Historienfilmen, bei denen es geradezu darauf ankommt, dass der Übergang zwischen „echten“ und inszenierten Sequenzen nicht auffällt und damit die Wahrhaftigkeitsregel zumindest einen Stoß abkriegt. Reenactment ist längst anerkannt. Für die Fraktion der seriösen Dokumentaristen ist eine solche Als-ob-Realität nicht immer leicht zu schlucken. Schließlich liegt ihr Ehrgeiz darin, die Realität nicht zu verändern oder szenisch zu kommentieren, sondern ihren Widerstand auszuhalten.

Der Dokumentarfilmer stillt und reflektiert zugleich die Sehnsucht des Fernsehens nach der Realität, indem er davon Abstand nimmt, die Realität kopieren zu wollen und darauf verzichtet, sie zu fingieren. Er beweist, dass er sie interpretieren kann. So ist der Dokumentarfilm die einzige Gattung, die das Fernseh-Urbedürfnis nach Realität in einer Weise erfüllt, die zugleich Kunst und Chronik, nachhaltig und aktuell, objektiv und subjektiv ist. Diese Filmkunst hat mit Dokusoap und Dokufiction nur sehr wenig gemein. Wenn sich das erst mal rumgesprochen hat, wird man Wege finden, mit der Namensgleichheit und deren Verwirrpotenzial umzugehen. Man wird es sich abgewöhnen, die Arbeiten der Dokusoapisten am Maßstab der Dokumentarfilmer (alter Schule) zu messen.

Das Ethos der Soapisten heißt nicht Glaubwürdigkeit, sondern Spaß. Und da das große Publikum Spaß in der Schlüssellochperspektive findet, behauptet der Dokusoapist, dass er genau diese Perspektive einnimmt. Er gibt seinem Kameraobjektiv quasi die Form eines Schlüssellochs – was sich davor abspielt, bestimmt er selbst. Und nennt es Realität. Spätestens seit „Big Brother“ weiß er, wie gecastete Normalmenschen einander auf die Nerven und an die Wäsche gehen.

Kurios genug ist der Spaß in dieser artifiziellen Welt für die Zuschauer genauso echt, wie es der Mitschnitt eines tatsächlichen Familienstreits wäre. Nur noch größer. Denn in der Wirklichkeit gibt es immer diese abtörnenden Leerläufe.

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