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Drama: Das Schweigen

Von sadistischen Erziehern und Schwestern schikaniert: Ein ZDF-Film mit Senta Berger bringt „Fürsorge“-Kapitel aus der Nachkriegszeit schmerzlich nahe.

Eine Straße in einem Berliner Altbauviertel, Jugendliche mit einem Kofferradio, aus dem „Please, please me“ ertönt, einer der ersten Hits der Beatles. Zwei „Halbstarke“ auf einem Moped knattern vorbei, winken. Man neckt sich und albert herum. Eines der Mädchen aus der Clique wird nach oben gerufen. Die Mutter ist in der Wohnung gestürzt, wieder einmal. Sie ist, so stellt sich bald heraus, schwer krank und muss operiert werden. Ob jemand, während sie im Krankenhaus ist, ab und zu nach der 16-jährigen Luisa schauen könne, fragt die alleinerziehende Mutter im Jugendamt nach. Vollkommen ausgeschlossen, Luisa sei schließlich noch ein Kind und brauche Anweisungen. Binnen weniger Tage wird das Sorgerecht an die Leiterin eines Kinderheims der Diakonie in Hessen übertragen, und Luisa findet sich an einem Ort wieder, an dem die Kinder Nummern bekommen und von sadistischen Erziehern und Schwestern schikaniert werden. Luisa rebelliert, die Katastrophe nimmt ihren Lauf.

Ein Artikel des „Spiegel“-Redakteurs Peter Wensierski über traumatisierte ehemalige Heimkinder brachte 2003 einen Stein ins Rollen. Überwältigt von der Fülle der Reaktionen, verfasste Peter Wensierski das wohl populärste Buch, das in Deutschland je über Heimerziehung geschrieben wurde („Schläge im Namen des Herrn“). Es folgte der „Runde Tisch zur Heimerziehung“ des Deutschen Bundestages, der ehemaligen Heimkindern die Möglichkeit bot, ihre erschütternden Kindheitserlebnisse zu berichten, und im Ergebnis die überwiegend kirchlichen Kinderheimbetreiber jener Jahre zu Entschädigungsleistungen zwang. Der ZDF-Film mit dem etwas unglücklichem Titel „Und alle haben geschwiegen“ verknüpft die weit zurückliegenden Ereignisse mit der Teilnahme der inzwischen 60-jährigen Luisa (Senta Berger) am „Runden Tisch zur Heimerziehung“. Ihr Bericht vor den Parlamentariern und Kirchenvertretern ist der Handlungsstrang des Films und vermittelt ganz nebenbei eine Ahnung von der Langzeitwirkung (un)pädagogischen Handelns.

Luisas Bericht basiert auf Szenen, die Peter Wensierski in seinem Buch beschrieben hat. Natürlich musste die Drehbuchautorin Astrid Stoll aus der Fülle der Schilderungen „Schlüsselmomente herausfiltern“ und in der Biografie Luisas verdichten, um dem Zuschauer eine Ahnung zu geben, was hunderttausende Heimkinder im Nachkriegsdeutschland erleiden mussten. Insofern ist die Geschichte von Luisa und ihrem schwärmerischen, stotterndem Verehrer Paul (als Junge: Leonard Carow; im Alter: Matthias Habich) fiktiv. Tatsächlich war die Realität oft schlimmer als der Film. Man hat da auch Rücksicht auf die Zuschauer nehmen müssen. Selbst die Gewaltexzesse, denen Luisa ob ihres verzweifelten Widerstandes ausgesetzt ist, werden hier nur angedeutet. Das zu zeigen wäre auch vollkommen unnötig. Die naiv-überraschte Luisa, der man jede Überrumpelung und jede nachfolgende Empörung nicht nur glaubt, sondern diese geradezu miterlebt (großartig: Alicia Rittberg), ist den unbarmherzigen Schwestern dermaßen ausgeliefert, dass man ihre dramatische Kurzschlusshandlung nach missglückter Flucht sofort versteht.

Zwischen 1945 und 1975 wuchsen etwa 800 000 Kinder in rund 3000 kirchlichen und staatlichen Erziehungsheimen auf. Einem Teil dieser Kinder ist Schreckliches widerfahren. Dieser Film kann mehr zum gesellschaftlichen Verständnis von Heimerziehung „vor 1968“ beitragen als ein halber Meter im heimischen Bücherregal.

„Und alle haben geschwiegen“, Montag, ZDF, 20 Uhr 15. Im Anschluss sendet das ZDF eine 30-minütige Dokumentation mit bedrückenden Schilderungen ehemaliger Heimkinder

Uwe Soukup

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