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Dschungelkandidaten Olivia Jones und Helmut Berger

© dpa

Dschungelbuch (10): Wenn Millionen Fliegen irren

Unser Autor Sidney Gennies stellt fest: Als Journalist über das Dschungelcamp zu schreiben muss ungefähr so sein, wie als „Prominenter“ ins Dschungelcamp einzuziehen. Ein publizistischer Selbstmord. Doch was von der großen Masse gemocht wird, muss man ernst nehmen. Oder doch nicht?

Es ist Tag zehn für die Menschen im Dschungelcamp. Tag eins für mich. Doch nach nur einer Stunde, die ich mich nun mit der Sendung beschäftigt habe, entdecke ich Parallelen zu meinem eigenen Leben und stelle fest: Als Journalist über das Dschungelcamp zu schreiben muss karrieremäßig ungefähr so sein, wie als „Prominenter“ ins Dschungelcamp einzuziehen. Oder hätte ich das Wort Journalist jetzt auch schon in Anführungszeichen setzen müssen?

Ich bin verunsichert, denn in dieser zehnten Folge erfährt der Zuschauer (ich), wie früh bereits die Weichen zur Resterampe gestellt werden: Aufgelöst erzählt Kandidatin Iris davon, wie sie mit 17 von ihren Eltern verstoßen wurde und mit ihrem Freund zusammenzog, der sie später verprügelte. Alles, weil sie sich gegen die Abtreibung ihres Kindes entschied. Heute ist Daniela Katzenberger (bekannt aus der Poco-Domäne-Werbung) ihre Tochter und der einzige Grund dafür, dass Iris im australischen Dschungel sitzt. Habe ich mit 17 etwa auch eine schicksalhafte Entscheidung getroffen, mit der ich meine jetzige Situation verdiene? Hier im journalistischen Dschungelcamp?

Fragen, die sich wohl auch die Kandidaten bei „Ich bin ein Star, holt mich hier raus“ nun stellen. Die Kur für diese Verunsicherung, das ist oft geschrieben worden, ist Selbstironie. Bei den Kandidaten, die wissen, dass sie sich zum Deppen machen und sich, wie Arno Funke, der übrigens von den Zuschauern rausgewählt wurde, dann freuen, wenn sie endlich aus dem Camp fliegen. Bei den Moderatoren, die wissen, dass sie dieses abgehalfterte Showformat verdient haben. Und bei den Zuschauern, die wissen, dass das, was sie sich ansehen noch nicht einmal der Bodensatz der deutschen Fernsehunterhaltung ist, sondern nur der Durchschnitt all dessen, was sich seit der Erfindung des Fernsehens bewährt hat: Sex, Schicksale, Prominente und Schadenfreude. Das ist so.

Und auch die Feuilletons sämtlicher deutscher Zeitungen können gegen diese Wahrheit nicht anschreiben. Sie können versuchen, diesen großen Haufen Kot als Kunstwerk zu begreifen, als selbstironisches zumal. Sie können versuchen ihn aus einer intellektuellen Perspektive zu betrachten und die abstrakte Schönheit preisen, die sich einem nur aus der Distanz der Selbstironie erschließt. Aber am Ende bleibt der Haufen, was er ist. Und wenn ihn sich noch so viele Menschen ansehen.

„Fresst Scheiße“, möchte man da angesichts von täglich mehreren Millionen Zuschauern ein Sprichwort dazwischen rufen: „Millionen von Fliegen können nicht irren.“ Doch so einfach ist es auch wieder nicht, zumal es zu Unrecht die Menschen herabwürdigt, deren gutes Recht es ist, Freude an diesem Format haben. Im Fernsehen allgemein ist es wie im Dschungelcamp. Es herrscht Demokratie, die Diktatur der großen Masse, wie Moderator Daniel Hartwich bemerkt. Das muss man ernst nehmen. Fast ein Drittel Marktanteil in der letzten Sendung. Das große öffentliche Interesse rechtfertigt eine ausführliche Berichterstattung in den Medien. Zumal eben diese Artikel besonders gerne gelesen und im Internet besonders häufig geklickt werden.

Das Dschungelcamp zu ignorieren, würde also bedeuten, am Interesse der Leser vorbei zu berichten. Ein publizistischer Selbstmord. In diesem Zusammenhang fällt mir aber die Weisheit ein, die Marge Simpson einst ihrem Sohn Bart mit auf den Weg gab. Sie stellte den Spruch mit den Fliegen vom Kopf auf die Füße und sagte: „Wenn niemand sich vom Empire State Building stürzen würde, würdest du dann auch nicht springen?“ Ihr Sohn erwiderte zerknirscht: „Nein, natürlich nicht.“ Ich allerdings, da ich nun mitten in der Nacht meine letzten Zeilen über diese Sendung schreibe, bin soweit und sage: Wagen wir den Sprung.

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