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Medien: Echte Menschen, echte Leistungen

Warum Feldarbeit und Sängerstreit im deutschen Fernsehen glänzend funktionieren

Jetzt also Artern. Mithilfe der Zauberkräfte des TV-Riesen Endemol sollen nun in dem nordthüringischen Flecken Landschaften erblühen. Der Aufbau Ost als Tele-Vision. Eine Stunde lang ist das demnächst wöchentlich im MDR zu besichtigen. Aber verkneifen wir uns jede Häme. Wenn erst die ersten neuen Arbeitsplätze in der kleinen Kyffhäuserstadt geschaffen sein werden, dürfte es nicht lange dauern, bis beispielsweise Minister Stolpe durch die Kulissen stapft. Mit der Häme läge man also falsch. Das zeigen auch die Überraschungserfolge des Fernsehjahres 2002: „Deutschland sucht den Superstar“ (RTL) und „Das Schwarzwaldhaus“ (ARD).

Wie Artern auch standen beide unter dem Verdacht, nur eine Neuauflage von „Big Brother“ zu bieten. Als bekannt wurde, dass der SWR eine Familie in einem abgelegenen Bauernhaus unter Zeitumständen, die jenen vor hundert Jahren glichen, abfilmen würde, unkten einige sogar, hier solle wohl der Voyeurismus von „Big Brother“ ARD-typisch mit zeigefingerndem Geschichtsunterricht kombiniert werden, während bei RTL statt Superstars allenfalls Suppenhühner gekürt würden. So genannte „real-people"-Formate seien ohnehin out, sämtliche Abenteuer-, Maulwurf- oder Camp-Shows gescheitert. Hier irrte die Kritik. Denn nichts sieht der Zuschauer lieber im Fernsehen als wirkliche Menschen, vergleichbar unseren Nachbarn, womöglich noch ausgewiesen durch besondere Leistungen oder Talente.

Mit „Big Brother“ hatte dann das dokumentierte, zeitversetzte Leben der Familie Boro im „Schwarzwaldhaus“ nicht viel zu tun. Schon immer faszinierte die Möglichkeit einer Zeitmaschine. Die Protagonisten machten Erfahrungen, die uns im Alltag erspart bleiben. Wer Hühnchen essen will, muss es vorher töten. Feldarbeit ist verdammt harte physische Anstrengung. Das Ganze fand in einem klar definierten Raum mit klar verteilten Rollen statt. Diese Einheit von Raum und Zeit ermöglichte eine dichte, filmische Erzählung. Überdies war die ausgesuchte, multikulturelle Musterfamilie Boro in ihrer Mischung aus Tradition und Moderne, Mitspracherecht der Kinder und klaren Entscheidungsstrukturen so, dass jedem Familienpolitiker das Herz höher schlagen konnte. Sie bot hinreichend Gelegenheit zur Identifikation. Ismail Boro und die Seinen zeigten sich als sympathische Stars. Was einst die Faszination der „oral history“ war, wurde so zu einer „visual history“, die an anderen Orten und mit wechselnden Zeitverschiebungen nahezu beliebig wiederholt werden kann.

Bei „Deutschland sucht den Superstar“, einer Adaption des bereits in England und in den USA erfolgreichen „Pop-Idol“, war vor allem Trash zu befürchten. Immer wieder weidete sich anfangs die Kamera hämisch an jungen Menschen, die ihre Talente falsch einschätzten und elendig versagten. Missgunst und eine überaus harte und ungerechte Profilierung erwachsener Showgrößen auf Kosten unbedarfter Jugendlicher schien sich da anzubahnen, mit einer gewaltigen Verwertungsmaschinerie im Hintergrund. Vorneweg Dieter Bohlen, der Wahrheiten unverblümt aussprach, aber zwischen unverblümt und unverschämt nicht zu unterscheiden wusste. Aber Dieter Bohlen tat auch, was nachsichtige Pädagogen heute kaum noch wagen: Er fällte Urteile über Leistungen.

Als Zuschauer spürt man, wie sehr die talentierten Kandidaten sich anstrengen. Ob da der soeben ausgeschiedene Daniel Lopez einen schmalzenden Latino gibt; der kauzige Dani über die Bühne irrwischt; die semi-professionelle Juliette Balladen schmettert oder Gracia keine Mühe hat, sich mit Whitney Houston zu messen – eine solche Darstellung der Leistungsgesellschaft haben wir zuvor in Spielshows selten gesehen. Entsprechend gewachsen ist der Druck. Ähnlich wie bei „Big Brother“ begreifen die jungen Leute, obwohl sie ja genügend Anlass haben, scharf miteinander zu konkurrieren, das Ganze als ein „Projekt“ und sich als Gruppe. Wenn jemand ausscheiden muss, weinen alle heftig. Aber sie haben Ambitionen, wollen heraus aus ihrem bisherigen Alltag, sich verändern, etwas werden. Sie sind lernbereit, muten sich etwas zu und gehen ein Risiko ein. Gäbe es nicht so fürchterlich viel Brimborium drumherum, so schrecklich talentfreie Moderatoren, könnte man die verbliebenen Mutigen fast so ins Herz schließen wie die Boros. So aber bleibt vor allem Anerkennung für Judith mit der schönsten Stimme, die sich der Konkurrenz-Maschinerie entzog. Sie könnte doch einmal die Boros besuchen. Und dann würden alle zusammen nach Artern fahren.

Bernd Gäbler ist Geschäftsführer des Adolf- Grimme-Instituts in Marl. Der Artikel ist angelehnt an die Broschüre: „Nachlese 2002“, ein persönlicher Rückblick auf das Fernsehjahr, Schutzgebühr 5 Euro.

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