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Medien: Ein Landei, ein Lude und ein altes Paar

Zehn Gründe, warum das deutsche Fernsehen im vergangenen Jahr doch sehenswert war

Selten wurde das Fernsehen so kritisiert wie in diesem Jahr. Es sei „seicht“ („Der Spiegel“) und von einer „irren Kopiermanie“ („FAZ“) befallen. Eine Jury aus zwölf Kritikerinnen und Kritikern dieser Zeitung erinnerte sich. Und siehe da, das Fernsehjahr 2004 hatte doch seine Höhepunkte, in immerhin zehn Kategorien.

BESTER SCHAUSPIELER/BESTE

SCHAUSPIELERIN: MARTINA GEDECK

„Hunger auf Leben“, „Feuer in der Nacht“, „Ins Leben zurück“. Eine Brigitte-Reimann-Biografie, ein experimentelles Live-Movie und ein leises Melodram – Martina Gedeck spielte gleich in drei der spannendsten Filme 2004 mit und stellte ihre grandiose Wandlungsfähigkeit erneut unter Beweis. Einen Zugang zu den Rollen finden – das ist immer so eine Schauspieler-Phrase. Bei der Gedeck nicht. Eigenwillig, schwierig, erfolgreich. Weiterhin eine Ausnahme in Deutschlands Filmlandschaft.

BESTER FERNSEHFILM:

HOTTE IM PARADIES

„Hotte im Paradies": Hotte ist ein Berliner Lude und erst glücklich, als die Mädels die Rolex und den Jaguar anschaffen helfen. Hotte ist im Paradies. Aber zugleich Zuhälter und Seelsorger, Spaßmacher und Liebhaber für seine Huren zu sein, das schafft Hotte nicht. Hotte kommt in die Hölle. Er wird brutal, rücksichtslos. Autor Rolf Basedow und Regisseur Dominik Graf betreiben in ihrem Film, den die ARD und Arte im Herbst zeigten, eine authentische Rotlicht-Milieu-Studie in Berlin, und, hastenichgesehn, der Zuschauer erfährt Gefühl und Härte, wenn er Hotte, Rosa, Jenny und Yvonne, den Luden und die Huren, aus nächster Nähe erlebt. Und Sympathie ist immer dabei.

BESTE SERIE: BERLIN, BERLIN

Es steht schlecht um den Ruf deutscher Serien. Man muss es so hart sagen: zu Recht. „Berlin Berlin“ ist die Ausnahme. Die ARD-Vorabendserie mit Felicitas Woll in der Hauptrolle ist so lustig wie „Ally McBeal“, und sie trifft das Lebensgefühl von Berlin, wie „Sex and the City“ das Lebensgefühl von New York traf. Nicht nur in unserer Jury, bis nach Amerika hat es sich herumgesprochen. „Berlin, Berlin“ bekam im November den Emmy. Neue Folgen ab März.

BESTE REALITY–SHOW: ABENTEUER 1900

„Abenteuer 1900 - Leben im Gutshaus“: Kann Holzhacken spannend sein, ist Schuheputzen ein Einschaltimpuls? Als „Telekolleg“ wars und wärs dröge Volkskunde, heute ist es Ethno-TV im Maßstab des Reality- Fernsehens. Und endlich, endlich gelingt dem Fernsehen, ohne jeden Betroffenheitston und spielerisch, der Nachweis, dass die gute, alte Zeit nur für ganz wenige Menschen gut und für ganz viele schlecht war.

BESTE COMEDY: DITTSCHE

Ein Mann im Bademantel steht in einer Hamburger Imbissbude. Arbeitslos, fettige Haare,Bierflasche in der Hand. Er hält einen 30-minütigen Monolog über Gott und die Welt, geistig angesiedelt irgendwo zwischen „Bild“-Zeitung, Verschwörungstheorie und Prolet auf der Straße. Olli Dittrich hat mit seinem improvisierten Wochenrückblick die Comedy neu erfunden. Ab 20. Februar wieder im Dritten Programm.

BESTER KOMMISSAR/BESTE

KOMMISSARIN: BELLA BLOCK

Für viele Fernseh-Kommissarinnen gilt: Sie sind durchsetzungsstark, dafür aber etwas burschikos, zumindest sind sie genauso treffsicher wie ihre männlichen Kollegen. Für Hannelore Hoger in der Rolle der Bella Block trifft dies nicht zu. Hannelore Hoger verkörpert in den ZDF-Krimis den resoluten Typ, sie ist unabhängig, muss sich nicht beweisen. Sie vertraut auf ihre Instinkte, gibt sich dabei keinen Illusionen hin, auch nicht in ihren Beziehungen zu Männern. Ihre Fälle sind genauso nah am Leben, so wie „Bella Block: Die Freiheit der Wölfe“ aus diesem Jahr, der sich unter anderem mit Frauen beschäftigte, die sich in Mörder verlieben.

BESTE TALKSHOW: BECKMANN

„Beckmann“: Die Talkshow mit der besten Redaktion, die die interessantesten Gäste einlädt und die spannendsten Runden zusammenbringt: Der dialogische Monolog von Altkanzler Schmidt wird dann zur Deutschstunde, die Frotzelei der Fußball-Heroen Beckenbauer und Netzer offenbart, dass Fußball nicht nur Rennen-Grätschen- Rennen bedeutet, sondern die Offensive von Charakteren aufm Platz. Und Reinhold Beckmann? Der hat gelernt, dass gelungenes Fragen auch Schweigen an den richtigen Stellen heißt.

BESTE DOKUMENTATION:

IN GOTTES NAMEN

„In Gottes Namen – Die Rekruten des Heiligen Krieges“: Gotteskrieger werden nicht geboren, Gotteskrieger werden gemacht, in den Koranschulen in Pakistan, in Kindergärten und Klassenräumen der Hisbollah, bei der Vereidigung der Selbstmordattentäter der Hamas. Der Film von Dan Setton und Helmar Büchel, der im März auf RTL lief, dringt tief ein in die verschlossene Welt des extremistischen Islam, und was die Autoren sehen und hören, ist ein Schock für den Zuschauer: Für die Fundamentalisten ist der Westler, der Mensch aus dem Abendland nichts weniger als ein Ungläubiger, ein Gegner, ein potenzielles Opfer. Eine Dokumentation wie ein Augenöffner, ein Film, der Illusionen niederreißt.

BESTER SPORTKOMMENTATOR:

DELLING/NETZER

Eigentlich hätten wir an dieser Stelle gerne einmal andere gewählt. Eine ganze Reihe neuer Paare hatte sich zur EM neu formiert: Waldemar Hartmann mit Marco Bode, Wolf-Dieter Poschmann mit Franz Beckenbauer. Doch Günter Netzer und Gerhard Delling frotzelten die anderen an die Wand . Nur Oliver Welke und Oliver Bierhoff, das Sat 1-Pärchen bei der Champions-League, können den beiden im nächsten Jahr gefährlich werden.

BESTER MODERATOR: CLAUS KLEBER

Armes ZDF. Für nur noch zwei Prozent der unter 30-Jährigen ist es der wichtigste Sender. Einer der wenigen klugen Schachzüge der Mainzer: dass sie der ARD Claus Kleber abgeworben haben. Während Ulrich Wickert immer mehr zum betulichen Opa-Tier wird, präsentiert Kleber das „heute journal“ dynamisch, locker, sehr kompetent und sorgt dafür, dass das ZDF wenigstens bei seinen 21-Uhr-45-Nachrichten ernst genommen wird.

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