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Contergan Film

© WDR

Fernsehen: Der Fall Contergan

Der vom Bundesverfassungsgericht freigegebene ARD-Film blickt unversöhnlich auf Deutschlands größten Arzneimittelskandal.

Die Akten purzeln wie früher die Kohlen für den nächsten Winter durchs Fenster von Staatsanwalt Feddersen. Man hat ihn, den unterschätzten „Aktenfresser“, ins Souterrain gesperrt. Er kocht einen miserablen Kaffee, aber seine Arbeit erledigt er mit unermüdlichem Fleiß. Pech für die Gegenseite, denn allen Verzögerungsstrategien zum Trotz erhebt Feddersen 1967 Anklage gegen Mitarbeiter des Pharma-Unternehmens Grünenthal, das das für Missbildungen an Neugeborenen verantwortliche Schlafmittel Contergan 1957 auf den Markt gebracht hatte. Sylvester Groth spielt diese wunderbare Nebenrolle, die allen aufrechten Juristen ein kleines Denkmal setzt, im Fernseh-Zweiteiler „Contergan“. Das Verfahren gegen die Verantwortlichen zieht sich. „Glauben Sie, dass unser Recht Pflege braucht?“, fragt der müde „Rechtspfleger“ Feddersen und gönnt sich an der Schulter von Opferanwalt Paul Wegener (Benjamin Sadler) ein Nickerchen.

Eine Szene mit Symbolwert, denn auch der Film „Contergan“ hat einen langen, mit Akten gepflasterten Weg hinter sich. Noch stehen die Hauptverfahren in Karlsruhe und vor dem Hamburger Landgericht aus, doch am 29. August hatte das Bundesverfassungsgericht grünes Licht für die nunmehr um ein Jahr verspätete Ausstrahlung gegeben. Der Konflikt kam wohl nicht von ungefähr: Regisseur Adolf Winkelmann („Das Leuchten der Sterne“), Jahrgang 1946, und Drehbuchautor Benedikt Röskau („Das Wunder von Lengede“), Jahrgang 1961, handeln den Arzneimittelskandal nicht mit dem hehren Ziel der Versöhnung ab, womöglich mit einer Dreiecksgeschichte gewürzt wie bei „Dresden“ oder „Die Flucht“. Sie führen in die historische Eventfilmerei einen deutlich kritischeren Ton ein.

„Contergan“ hat humorvolle, bewegende Momente, bleibt aber in der Sache unversöhnlich. Die Grünenthal-Manager sind ein unsympathischer Haufen auf den eigenen Vorteil bedachter Befehlsempfängertypen, der Betriebsdirektor (Matthias Brandt) ein rückgratloser Mitläufer. Selbst den zynischen Grünenthal-Anwalt Dr. Naumann (stark: August Zirner) widert deren Neigung an, sich persönlich für nichts verantwortlich zu fühlen. Naumann vertritt sie vor Gericht, aber eigentlich vertritt er „bedeutendere Interessen als die eines kleinen Pillendrehers aus Aachen“. Auch der Hinweis, dass die pharmazeutische Industrie damals einen Präzedenzfall fürchtete, bleibt somit nicht ausgespart.

Der Film beginnt mit einer Kanzlei-Eröffnung. Die jungen Anwälte Paul Wegener (Benjamin Sadler) und sein Freund Horst Bauer (Hans-Werner Meyer) wagen den Start in die Selbständigkeit. Zur Feier des Tages stoßen die beiden, ihre Frauen und Sekretärin Ruth Häffgens (hinreißend: Dörte Lyssewski) mit einem Gläschen Sekt an. Wegeners Gattin Vera (Katharina Wackernagel) bringt bald ein Mädchen zur Welt – ohne Arme und mit nur einem Bein. Ihr Arzt hatte ihr das begehrte, weil rezeptfreie Mittel Contergan gegen Schlaflosigkeit gegeben.

Zu dieser Zeit sind in Deutschland Zweifel an Autoritäten nahezu undenkbar. Man ist ja wieder wer. Man erfreut sich an Waschmaschinen, frisch gekachelten Badezimmern und dem ersten Fernseher, auch wenn er selten mehr als ein Testbild zu bieten hat. Im frisch erarbeiteten Wohlstandsgefühl wird bedingungslos nach vorne geschaut, auch weil der Blick zurück so unerfreulich ist. Den Bezug zum Nationalsozialismus lässt Winkelmann in einigen Szenen anklingen, ohnehin handelt der ganze Film von verdrängter Schuld. Gründe, schlecht zu schlafen, gab es wahrlich genug.

Die Kehrseite der Wirtschaftswunderwelt, die auch bei „Contergan“ fernsehgerecht hell und freundlich ausgeleuchtet ist und mit zahlreichen Ausstattungsdetails besticht, wird in einer drastischen Szene nach der Geburt im Krankenhaus vorgeführt. „Sie haben leider ein verkrüppeltes Kind“, teilen Arzt und Schwester den Wegeners mit versteinerten Mienen mit. Den Eltern schlägt unterschwellig ein Schuldvorwurf entgegen. „Dafür gibt es heute Heime, da kann man es ganz bequem abgeben“, rät der Arzt. Contergan-Kinder kamen in einer Zeit zur Welt, als Behinderte – knapp 20 Jahre nach dem Euthanasie-Programm der Nazis – zwar nicht vernichtet, so doch immer noch versteckt und weggesperrt wurden. Daran mit der gebotenen Schärfe zu erinnern, ist eindringlich gelungen.

Sensibel inszeniert wurden die Auftritte von Denise Marko. Das körperbehinderte Mädchen spielt im zweiten Teil die siebenjährige Katrin Wegener. Als Mensch ohne Behinderung staunt man ja gewaltig darüber, wie man einen Bleistift nur mit den Zehen eines Fußes anspitzen kann. Doch Winkelmann ist nicht auf übermäßige Emotionalisierung aus. Er beschränkt sich auf wenige Szenen mit Denise, in denen vor allem die Ablehnung Behinderter eine Rolle spielt. Manchmal hat es Winkelmann allerdings zu gut gemeint, Botschaften werden laut ausgesprochen, obwohl schon die Bilder vielsagend sind.

Bis vor‘s Bundesverfassungsgericht sind das Aachener Unternehmen Grünenthal und der Siegener Anwalt Karl-Hermann Schulte-Hillen im Streit um den vom WDR, der Kölner Firma Zeitsprung und Jan Mojtos EOS produzierten, fünf Millionen Euro teuren Zweiteiler gezogen. Regisseur Winkelmann ließ aufgrund der Verfahren eine Szene nachdrehen, in der der Firmenchef Grünenthals seinen Anwalt ausdrücklich darauf hinweist, dass der engagierte Detektiv nach Recht und Gesetz handeln müsse – dies ist der einzige Erfolg, den das Unternehmen nachweislich durchsetzen konnte. Vor und nach beiden Teilen wird außerdem der Hinweis verlesen, dass die Fakten im Film zwar der Realität entsprächen, die Figuren jedoch frei erfunden worden seien.

Für Schulte-Hillen, der selbst Vater eines contergangeschädigten Kindes ist und der damals als Opferanwalt die Entschädigung in Höhe von 100 Millionen D-Mark aushandelte, gibt es ohnehin keinen erkennbaren Grund für eine Beanstandung: Opferanwalt Wegener ist der ungebrochene Held des Zweiteilers, ein zu glatt geratener David im Kampf gegen Goliath, den auch der Kuhhandel – Entschädigungsgeld gegen Einstellung des Verfahrens wegen geringer Schuld – nicht beschädigt. Regisseur Winkelmann sagt selbst: „Ich glaube, es ist das erste Mal, dass ich die Hauptfigur in einem Film durchgängig als Helden erzähle. Eigentlich ist es interessanter, wenn die Trennungslinie von Gut und Böse mitten durch eine Figur verläuft. Aber hier war es wichtiger, möglichst präzise den Konflikt und die juristische Auseinandersetzung darzustellen.“

Dies geschieht auch noch in weiteren TV-Sendungen, etwa in der Dokumentation „Contergan – Die Opfer, die Anwälte und die Firma“ (ARD, 8. November, 21 Uhr 45). Das WDR-Fernsehen zeigt heute außerdem in seiner Reihe „Menschen hautnah“ den Film „Schau mich an!“ (22 Uhr 30) von Niko von Glasow, der selbst ein Contergan-Opfer ist und über Contergangeschädigte berichtet, die sich für einen Jahreskalender nackt fotografieren lassen.

„Contergan“, ARD, 20 Uhr 15, zweiter Teil am Donnerstag

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